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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathi Appelt
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sich immer mehr Rochen an der Sandbank. Da kamen sie in einem langen Strom aus Jamaika und von den Jungferninseln traf ein weiterer Schwarm ein. Sie schlossen sich zusammen und glitten mit ihren breiten Schwingen majestätisch unter den Wellen hinweg.
    Heute Nacht würden sie auf dem Rücken der Flut durch den schmalen Kanal reiten, der den Golf mit dem Becken verband. Wer wusste schon, warum sie ausgerechnet diese Sandbank erwählten oder diese Lagune oder diese Nacht? Vielleicht war es ein uralter Instinkt? Vielleicht war es aber auch nur der Zufall, das Ergebnis der Meeresströmungen.
    Aus welchem Grund auch immer, im Laufe dieser Nacht trafen sie zu Tausenden ein. Ein Ansturm aus Rochen, eine Flutwelle aus Rochen, ein ganzes Meer aus Rochen! Und alle waren sie gekommen, um im Licht des blauen Julimondes ihre Eier abzulegen.
    Die Meerjungfrauen-Täschchen.
    72 Mirja blinzelte. Im Vergleich zum Becken war es hier draußen in der Brandung hell. Die phosphoreszierenden Wellen verströmten einen Schimmer, der den ganzen Strand erleuchtete. Alles kam ihr unendlich und gigantisch vor – der Himmel, die Luft, ja sogar der Mond schien zweimal so groß zu sein, wie vom Becken aus betrachtet.
    „Wir haben es geschafft!“, sagte sie noch einmal.
    Ihr vollkommener Plan funktionierte! Punkt H war erledigt! Sie straffte die Schultern und hob jubelnd die Arme. Sie empfand einen wilden, freudigen Triumph. „Wir sind fast da!“, rief sie BF zu und umarmte ihn stürmisch.
    Er leckte ihren Mund ab.
    „Flüchtiküsser!“, lachte sie.
    Im sanften Licht sahen auch die Wellen sanft aus. Die Mondstrahlen glitzerten auf ihren weichen Wogen. Und dort, hundert Meter voraus, glänzte der knochige Rücken von De Vacas Fels im Licht des vollen, runden Mondes.
    Die Sandbank im Blick, griff Mirja nach den Rudern. Sie musste dafür sorgen, dass der Bug des Bootes haargenau auf die hereinrollenden Wellen zielte. Ansonsten würde das Boot seitwärtsgeschoben werden und sie würden kentern, Mädchen und Hund. Mirja schob die Ruder in die Dollen und zuckte zusammen, als der Schmerz in ihre Handflächen stach.
    Platsch! Die Nase des Bootes wurde in die Höhe geschoben. Eins der Ruder riss sich aus der Verankerung los und flog davon.
    „Oh nein! Komm zurück!“, schrie Mirja. Sie streckte die Hand aus, als erwartete sie, dass das Ruder tatsächlich zu ihr zurückgeflogen käme. Ungläubig schaute sie zu, wie es mit der Brandung davontrieb.
    Jetzt musste sie sich doppelt anstrengen, um das Boot auf die Sandbank auszurichten. Konnte ihr das mit nur einem Ruder überhaupt gelingen? Sie war zuversichtlich; immerhin paddelten Kajakfahrer auch nur mit einem Ruder. Und was war mit Kanuten? Auch nur ein Ruder.
    De Vacas Fels stach aus dem Wasser hervor. Er war gar nicht weit weg. Sie konnte es schaffen, wenn sie nur das Boot lange genug in die richtige Richtung steuerte. Das Wasser hier war immer noch flach, kaum mehr als einen Meter tief. Sie konnte ja eigentlich zum Felsen waten!
    Aber das ist so eine Sache mit Brandungsströmungen. Selbst im seichten Wasser entwickeln sie eine schier unglaubliche Kraft. Mirja hatte das nicht bedacht. Eine solche Strömung, eine Strömung von der Stärke eines Güterzuges, verlief an dieser berühmten Sandbank, eine Strömung, die den Flitzer samt Mädchen und Hund packte und mit sich riss.
    An der Sandbank vorbei.
    Vorbei am Rochenschwarm.
    Hinaus ins offene Meer.
    So eine Strömung.
    Bevor Mirja wusste, wie ihr geschah, war der Flitzer schon an der Sandbank vorbei. Die sanften Brandungswellen lagen hinter ihr und sie fuhr hinaus auf den Ozean. Auf den tiefen, tiefen Ozean.
    Und der Hund? Er heulte gegen die silbrige Gischt an und wünschte sich, dass jemand – irgendjemand – in der Oyster Ridge Road endlich aufwachen würde.
    Und zwar jetzt sofort!
    73 Signe, die nicht ahnte, dass sie allein war, lag in ihrem spukblauen Haus und träumte. Es war ein vertrauter Traum, ein Traum voller Erinnerungen. Da war sie und zerrte an Meggie Maries Arm, flehte sie an, aus dem Wasser zu kommen, zurück an Land, zerrte an ihr, so fest sie konnte. Aber es war zu spät. Meggie Marie begann zu schreien: „Es kommt, es kommt! Das Baby kommt!“
    Und dann, einfach so, war das Baby da. Es glitt aus Meggie Marie heraus und ploppte aus dem Wasser an die Oberfläche, geradewegs in Signes Arme. Im nächsten Augenblick stand Dogie neben ihr wie Neptun persönlich. Seine nassen Dreadlocks glänzten in der Morgensonne und verteilten

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