Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
Gegenseitigkeit«, bedeutet also einen evolutionären Vorteil, der sich übersetzen lässt in die Sphäre von Wirtschaft und Gesellschaft. Die modernen Medien und die intensive Vernetzung, Connectivity, verstärken Austausch und Beobachtung. 6 Bewundert wird, wer authentisch ist, wer ein ehrliches Anliegen hat. Egal, aus welchen Motiven heraus das Starengagement für das Operndorf in Burkina Faso oder die Initiative gegen Kinderarmut entstand – ihre Initiatoren werden in einer materialistischen Kultur aufgewertet.
Bis zum Jahr 2045 sollten wir also einen Wandel hin zum »empathischen Kapitalismus« und zur »neuen Bürgergesellschaft« erleben, denn Systeme, in denen Staat, Zivilgesellschaft, Individuen und Wirtschaft eng und produktiv verflochten sind, haben im globalen Wettbewerb einen Vorteil. Die neue Bürgergesellschaft zeichnet sich durch Eigenschaften aus, die wir bereits verschiedentlich angesprochen haben. Die Menschen engagieren sich stärker in überschaubaren Verhältnissen vor Ort, in der Gemeinde, der Region, was die Wirtschaft mit einschließt. Wir verabschieden uns von den schlichten Transfer-Sozialstaaten und bauen eher auf Teilhabe und Verantwortung. Der Tonfall des öffentlichen Diskurses wird sich ändern. Statt »Ich habe Angst, und der Staat ist schuld« wird es in Zukunft öfter heißen: »Und was tust du für die Gemeinschaft?« Die Phase der öffentlichen Nörgelkultur geht zu Ende. Politiker gelten in Zukunft nicht mehr unbedingt als das Allerletzte und Korrupteste. In Zukunft gibt es auch kein Unternehmen mehr ohne gesellschaftliche Mission, ohne Engagement für einen guten Zweck jenseits des reinen Produkts. Aber ein reines Alibi-Marketing-Engagement ist in Zukunft tödlich für die Firmen-Reputation.
Wäre ein solcher kreativ-kooperativer Kapitalismus in der neuen Bürgergesellschaft sozialistisch oder kapitalistisch? Beides. Soziale Fragestellungen werden auf neue Weise »sozialisiert«, Ökonomie bewegt sich in einer Marktform, die den Kräften des Wettbewerbs freien Raum lässt, aber ihr exterritoriales Dasein aufgibt. Ein Soziokapitalismus. Ein Kapitalsozialismus. Oder auch einfach: die nächste, komplexere Stufe des menschlichen Gemeinwesens.
Die spiritualisierte Gesellschaft
Welche Rolle spielt im Jahre 2045 schließlich die Religion, der Glaube, die Transzendenz?
Auch hier gibt es einen langen, polarisierten, ermüdenden Diskurs. Der Zeitgeist wechselt in regelmäßigen Abständen zwischen der Säkularisierungsthese, nach der Religion »von gestern« ist, und dem Gegenteil. Wissenschaftspublizisten wie Richard Dawkins, der in der Religion die Wurzel aller Übel und Fanatismem sieht, haben
daraus einen zugespitzten ideologischen Streit gemacht. Auf der anderen Seite erlebt die Comeback-These ständig ein Comeback: Grundsätzlich und zwangsläufig steht uns eine religiöse Renaissance bevor!
Beide Lager argumentieren letztlich immer mit den Megatrends. Urbanisierung, Individualisierung, informelle Vernetzung, so sagen die einen, widersprechen dem religiösen Motiv der Delegation des Lebens an höhere Mächte. Urbanisierung, Individualisierung, informelle Vernetzung, so die anderen, machen den Menschen haltlos in einer atomisierten Lebenswelt. Individualisierte, säkularisierte Gesellschaften, so die These, gehen »aus dem Leim«, weil jeder Form der Hybris Tür und Tor geöffnet sind. Transzendenz hat eine heilsame Ordnungsfunktion, auf die menschliche Kulturen um den Preis des Untergangs nicht verzichten können. 7
Beide Erklärungsmuster kranken am klassischen Kontextirrtum. Beide gehen davon aus, dass Religion und Glaube so bleiben, wie sie waren. Doch Religion unterliegt denselben rekursiven Trends, die sie je nach Perspektive obsolet oder unabdingbar machen: Sie globalisiert sich, sie individualisiert sich, sie feminisiert sich, sie urbanisiert sich!
Die Zukunft der Religion ist ihre Multiplikation, ihre Mutation in unendliche Glaubensvarianten. Am Londoner Flughafen Heathrow gibt es einen »multi faith room« – Globalglaube in Aktion. Wir erleben »City-Religionen«, die die schnelle Alltagserlösung versprechen, »Diät-Religionen«, die auf die rituelle Asketisierung des Lebens zielen. »Cyber-Religionen«, in denen Menschen Virtualität als übergeordneten Sinnkontext entdecken. Scientology macht den persönlichen Erfolg zur Hauptsache und ist im Grunde eine hypertrophische Psycho-Sekte, in der es um Narzissmus pur geht (man muss nur Tom Cruise bei seinem
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