Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
den Schultern, stecken die Hände in die Taschen und schauen über den grauen Industriefluss auf die Hafenanlagen. Manche recken die Faust – venceremos. Andere den Mittelfinger. Manche versuchen sich in der Hocke, in Rodin-Denker-Pose.
Guck nicht so komisch! Entspann dich!
Wie soll denn das gehen?
Weißt du nicht, wer du bist?
Keine Ahnung! Ich bin viele!
Wie um alles in der Welt soll Individualisierung ein Megatrend sein? Schon die Wortkombination wirkt absurd und irgendwie unnatürlich: Megatrend Individualisierung. Sind wir nicht immer Individuen, weil wir uns abheben, unterscheiden, eben keinem Trend folgen?
Auf einer weiteren Betrachtungsebene scheint das Phänomen statistisch banal: Sind wir nicht alle schon deshalb Individuen, weil unsere knapp 25 000 Gene uns eine jeweils andere Nase, Haarfarbe, Körpergröße verleihen, weil Finger, Lippen, Füße, Daumenabdrücke immer etwas Unverwechselbares haben? Wie soll das einen »Trend« konstituieren? Aber hören wir überdies nicht seit mindestens 200 Jahren von einer Phalanx von Kulturkritikern, dass »der Mensch immer anonymer, vermasster, gleichförmiger« wird?
Über Individualität lässt sich kaum ohne Vorbehalt sprechen. In Moraldiskursen dient das Wort gern als Vorwurfsvokabel. »Selbstverwirklichung« scheint für alle Probleme der Welt verantwortlich: Scheidung, Finanzkrisen, muffige Nachbarn, Atomunfälle und Global Warming. Wenn Menschen endlich nicht als Individualisten, sondern als wahre Wir-Wesen handeln würden, dann wäre alles gut. Welch ein monströser Irrtum!
Der Gruppenegoismus
Carsten De Dreu, ein niederländischer Psychologe, ist Spezialist auf dem Gebiet der Erforschung des »Kuschelhormons« Oxytocin. Diese Substanz bildet so etwas wie ein Gegenmolekül zu den »Kampf hormonen« wie Adrenalin, Testosteron und Dopamin, die uns wach und aktiv machen, unsere Konflikt- und Leistungsbereitschaft steigern. Oxytocin wird im menschlichen Körper ausgeschüttet, wenn Menschen sich in Komfortsituationen begeben. Liebe zwischen Paaren, zwischen Mutter und Kind, aber auch entspanntes Vertrauen zwischen Menschengruppen ist immer begleitet – oder verursacht – von Oxytocin-Kaskaden, die aus dem Hypothalamus gesteuert werden. So wirksam ist die Substanz, dass Zukunftsforscher wie Jeremy Rifkin sie als eine Art Grundstoff für eine »empathische Zivilisation« auserkoren haben. Sollte man einen so wunderbaren Stoff nicht gleich ins Trinkwasser geben, wie kariesvorbeugende Fluoride?
Leider könnte dies erhebliche Nebenwirkungen verursachen. Als De Dreu seinen Probanden unter Oxytocin-Einfluss Bilder von Fremden zeigte – unbekannte Menschen mit anderer Hautfarbe –, beurteilten sie diese deutlich negativer als ohne Kuschelhormon. Sie waren weitaus schneller bereit, Aggressionen anderer gegenüber den Fremden zu akzeptieren oder gutzuheißen, ja sogar zu fordern! 1
Menschen sind in ihrer anthropologischen Grundprägung in der Tat Egoisten – aber Gemeinschaftsegoisten. Wir agieren altruistisch und kooperativ gegenüber jenen Menschen, mit denen wir verwandt sind oder die wir als » die unsrigen« definieren. Dieser Sippenimpuls ist so stark, dass er auch in Situationen auftritt, in denen es kein unmittelbares Kriterium gibt, wer in welches »Lager« gehört.
Schon in den fünfziger Jahren machte Muzafar Sharif, einer der Pioniere der Verhaltensforschung, Experimente mit Jugendlichen, die er in bestimmten, scheinbar harmlosen Freizeitsituationen bei Gruppenbildungen beobachtete. Bei seinem berühmten »Camping«-Experiment bildete er zwei Gruppen aus einer Anzahl sozial heterogener
Jugendlicher auf einem Campingplatz. Die »Rattlers« und die »Eagels« bekämpften sich innerhalb weniger Tage im wahrsten Sinne bis aufs Messer, obwohl es nur um so scheinbar unbedeutende Dinge wie Vereinsflaggen und »Ehre« ging. Am Ende des Experiments hatten die Gruppen völlig unterschiedliche Organisationsformen, Rituale, Symbole entwickelt. Die einen waren hierarchisch, die anderen egalitär. Die einen argumentierten mit Moral und Glaube, die anderen mit Rationalität. 2
Dieser tief verankerte Kollektivmechanismus hat seinen Grund in der spezifischen Überlebensstrategie des Homo sapiens. Menschen sind weder gut gepanzert, noch besonders schnell, noch haben sie besonders entwickelte Krallen oder Schneidezähne. Zum Überleben sind sie auf Kommunikation und Kooperation mit Artgenossen angewiesen. Die Nachkommen bleiben lange hilflos und
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