Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
Individualität eher als Zufall und Randerscheinung hervor. Schon in der Steinzeit beharrte wahrscheinlich ein Mammutmaler darauf, das Ocker ganz anders auf der Höhlenwand zu verteilen als seine Zeitgenossen. Menschen sahen zum Himmel auf und erkannten sich in ihrer Eigenheit und das Wesen ihrer Existenz. In der feudalen Gesellschaft schätzte man Exzentrik »bei Hofe« als Unterhaltung – bis sie störend wurde und man den Hofnarr in den Kerker warf. Sonderlinge und Abweichler werden in jeder Dorfgemeinschaft bis zu einem gewissen Grad geduldet – solange sie keine Kosten verursachen oder die kollektiven Gewissheiten allzu sehr irritieren.
Individualität als breites gesellschaftliches Motiv beginnt jedoch erst in der Wohlstandsgesellschaft. Erst wenn der Mangel überwunden
ist, wird »Individuation« zur sozialen Technik, zum gestaltbaren Prozess. Ihre Heimstatt ist eine Kultur der Wahl. Wenn man nicht heiraten muss, um zu Hause ausziehen zu können. Wenn man den Bildungsweg wählen kann. Den Wohnort. Den Beruf. Den Partner. Wählen muss. Dann beginnt Individualität, die Menschen zu formen.
Aber Individualisierung ist eben nicht nur ein Resultat von Wohlstandsgewinnen, sondern auch eine Kulturtechnik. Sie bedingt und bedeutet, dass wir uns selbst nicht nur als Ursache von Erfahrungen, sondern auch als Objekt von Veränderungen sehen. Individualismus, also ein »Hang zum Selbstgefühl«, kann schon dort entstehen, wo wir uns als »Andere und Eigenständige« empfinden. Aber wahre Individualisierung fängt erst dort an, wo wir beginnen, uns selbst zu formen und zu verändern. Aber wie weit ist das überhaupt möglich? Und unter welchen Bedingungen gelingt es?
Die Propaganda des Ich
Spätestens seit der Renaissance schauen Menschen nicht mehr nur durch Altarbilder in eine transzendente Welt. Sie betrachten auch sich selbst, sehen in einen Ich-Spiegel, der zunächst die Kunstform des Porträts annimmt. Die sitzenden, ruhenden, dem Betrachter zugewandten Menschen der Künstler des 15. und 16. Jahrhunderts faszinieren uns heute noch. Die uns offen anblickenden Gesichter stellen eine historisch neue und einmalige Frage: Wer bin ich – und wie unterscheide ich mich von allen anderen?
Die erste heiße Phase des Individualisierungstrends beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts, im »Zeitalter der Biografien«. Menschen werden mit ihren inneren Konflikten und Entscheidungsnöten geschildert. Eine Literatur der Innenwelt entsteht. Im klassischen »Tugend-Roman« wird Individualität noch als temporäre Abweichung von Bindungsprozessen chiffriert, wonach Läuterung und Rückkehr folgen. Die »Sturm und Drang«-Literatur handelt vom Abbau eines emotionalen Überschusses durch persönliche Katharsis. Ganze Heerscharen von Protagonisten wenden sich nach pubertären »Irrungen und Wirrungen« einem nüchternen und
bescheidenen Leben zu; sie werden »vernünftig« und passen sich schließlich in die ihnen bestimmten sozialen Rollen aus Einsicht ein. Die klassischen Entwicklungs- und Reise-Romane wie Goethes »Wilhelm Meister«, das Ehedrama der Effi Briest, die Irrungen und Wirrungen der Brontë-Sisters lassen das Ende schon offener. Aufbrechen, um zurückzukehren, wird abgelöst von Aufbrechen, um woanders anzukommen.
In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird der Rebell, der Außenseiter und Abweichler schließlich zur neuen Leitfigur – nicht zufällig geschieht das in der ersten Phase des Massenwohlstands. Besonders das Medium Film ergreift nun bedingungslos Partei für das rebellische Ich. In Filmen wie »Denn sie wissen nicht, was sie tun«, »Easy Rider« oder »The Wild One« wird das Jugend-Ego, das allen Normen entflieht, gefeiert. Moderne Helden verlassen nun völlig den Orbit der Konventionen. Kaum ein Film hat diesen Prozess so radikal und visionär inszeniert wie Stanley Kubricks »2001 – Odyssee im Weltall«. Der junge, obercoole Astronaut entkommt dem irdischen Spießertum durch Millionen Kilometer Distanz. Um am Ende seiner Reise der Unsterblichkeit zu begegnen. Weggehen, um zu transzendieren.
Vom Ende der sechziger Jahre an gibt es praktisch kein Drehbuch, keine Choreografie, keinen Fernsehfilm, keinen Jugendroman, in dem der Einzelne, der Außenseiter, der Rebell nicht den moralischen Sieg davontragen würde. Es beginnt die Ära der Querköpfe, Knorrigen, Kautzigen, Widerborstigen, der Neinsager, Zweifler, Freaks, der Andersartigen, Perversen und Interessanten. Anpassung ist schlecht, Anderssein
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