Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
gut. Man vergleiche »Hanni und Nanni« mit »Pippi Langstrumpf«. Man lese den »Kleinen Prinzen« oder Michael Ende oder »Harry Potter«. Man sehe die »Sendung mit der Maus« oder »Sesamstraße«. »Sei Du selbst!« ist das große, allgegenwärtige, durchdringende, fast schon totalitäre Mantra unserer Tage.
Auf seltsame Weise ist Individualität heute ein Kollektivphänomen. Jeder will ein Individualist sein, auch der, der bei Aldi einkauft und mit tausend Leuten auf die Kreuzfahrt geht.
Der Soap-Effekt
»Für meinen Chef eine Enttäuschung. Für meine Alten der falsche Vater. Für mich der reinste Segen!« So lautete der Text auf einer doppelseitigen Anzeige in einer großen deutschen Illustrierten im Jahr 2011. Gezeigt wird eine Frau in deutlich mittlerem Alter – um die 40 –, die mit einem süßen Baby schmust. Ihrem Baby. Gleich vier Normen werden hier bewusst verletzt. Das Heiratsgebot. Das Junge-Mütter-Gebot. Das Du-sollst-die-Eltern-ehren-Gebot. Das Du-sollst-Kinder-nicht-als-Selbstverwirklichung-missbrauchen-Gebot. Man stelle sich diese Anzeige vor einem halben Jahrhundert vor! Die Botschaft der Ichwerdung ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Der amerikanische Autor Steven Johnson hat in seinem Buch »Everything Bad Is Good for You« die Spiegelungsfunktion der »Trivialmedien« herausgearbeitet. Vor allem das vielgescholtene Massenmedium Fernsehen, so Johnson, ist in Wahrheit ein Individualisierungs-Generator. In einer wunderbaren Reportage der Zeitschrift »National Geographic« wird dieser Effekt am Beispiel des sozialen Wandels in Südamerika beschrieben. In jenen urbanen Regionen Brasiliens, wo die Einschaltquote für die Telenovelas, die typischen südamerikanischen Herz-und-Schmerz-Serien, besonders hoch war, fiel die Geburtenrate innerhalb nur eines Jahrzehnts ins Bodenlose, während das Heiratsalter der Frauen gewaltig anstieg. Aus den traditionellen Acht-Kinder-Familien wurden in historisch einmaliger Geschwindigkeit jene Ein- bis Zwei-Kind-Mittelschichtfamilien, die den Kern der neuen Individualkultur bilden. In den Telenovelas wird, ähnlich wie in den Bollywood-Filmen, all das dramatisch verarbeitet, was die Kulturtechniken der Individualisierung ausmacht: Wohlstand, Aufstieg, Karriere (auch der Frauen), Ausbruch aus engen sozialen Verhältnissen, Konsum, Eigensinn. Hier entstehen die Rollenmodelle der selbstbewussten Frauen, die sich für einen Mann und gegen eine Familie, oder umgekehrt, entscheiden, die sich durchkämpfen gegen Widerstände und Vorurteile. Hier wird die romantische Liebe als Gegenentwurf zu den Traditionsbindungen der Großfamilie gefeiert. 6
Massenkultur und Individualisierung schließen sich nicht aus – im Gegenteil. Warum sind die »Royals«, die königlichen Familien, in einer säkularen und eher demokratischen Welt immer noch so beliebt? In diesen Familien wird uns ein immerwährender Konflikt zwischen sozialem Status (Wir, Pflicht, Repräsentanz) und den abweichenden Impulsen des Ich (Normalsein, Fremdgehen, Lustprinzip) vorgespielt. Ob sich die junge Kate protokollkonform verhält, ob Prinz Soundso an Depressionen leidet und eine Liaison beginnt, ob das Fürstenpaar sich liebt oder aneinander leidet, interessiert uns als Symboldrama, um das eigene Verhalten zu reflektieren. Die Royals zeigen uns Individualisierungsprobleme live und in Farbe: wie aus Traditionen Entscheidungszwänge werden, aus Normen Dilemmata, aus Gewissheiten Probleme.
Der Ursprung dieser Funktion der Massenmedien liegt in unserer sehr menschlichen Lust am Beobachten unserer Mitmenschen. Das Fernsehen macht im gigantischen Stil möglich, was wir seit Jahrmillionen an Lagerfeuern getan haben: schauen, was die anderen tun. Was wird im »Proll-TV«, in den Schrei- und Versöhnungs-Shows des Nachmittagsprogramms anderes gezeigt als Individualisierungstechniken? »Hannas Freund hat sie betrogen – soll sie ihm verzeihen?« »Darf man die beste Freundin anlügen?« Millionen Menschen sehen zu, wenn Hilka und Gerhard ihr Eheproblem vor laufender Kamera aussortieren, wenn Lastwagenfahrer Udo gesteht, er stehe auf SM-Sex, seine Frau möge das aber nicht. Und die Moderatorin summt: »Ihr müsst schon eure Gefühle zeigen lernen, wenn ihr weiterkommen wollt!«
Die größte Vorabendserie im deutschen Fernsehen, die »Lindenstraße«, ist eine einzige Schulungsanstalt für Ich-Techniken. In dieser Spiegelwelt wohnen »ganz normale« Familien mit Kindern und Doppelnamen – die
Weitere Kostenlose Bücher