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Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht

Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht

Titel: Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt <München>
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pflegebedürftig. Weder können Mütter für ihre Kinder allein genügend Ressourcen erobern, um die langen ersten Jahre der Kindheit zu überstehen (selbst in modernen Gesellschaften ist das sehr schwer), noch können Kinder während der ersten Jahre ohne Eltern oder Elternersatz auskommen. Alle Untersuchungen zeigen, dass soziale Isolation im Kindes- oder Säuglingsalter nicht nur Traumata hervorruft, sondern sogar das Hirn schädigt. 3 Das menschliche Bewusstsein wird nicht im Schädel produziert, sondern in einem sozialen Netzwerk.
    Wir sehen unserem Gegenüber sehr schnell an, ob er »zu uns« gehört oder »zu den anderen«. Das »Handlungszentrum« im Gehirn wird innerhalb von Sekundenbruchteilen aktiviert, wenn Mitglieder einer Ethnie jemanden der gleichen Ethnie erblicken, dem Schmerz zugefügt wird. Bei Menschen mit anderer Hautfarbe oder Gesichtszügen dauert die emotionale Reaktion hingegen viel länger, und die Reaktion ist schwächer ausgeprägt. 4 Der Fachausdruck für diesen Rudel-Egoismus lautet »group selfishness« – und meint genau das: Egoismus und Wir-Gefühl sind eng miteinander verwoben. Wir sind Egoisten nicht, weil wir Individuen sind. Egoismus ist im gleichen Maße ein Gruppenphänomen!

    Waren die Teilnehmer an einem Reichsparteitag der Nationalsozialisten Egoisten? In ihren Adern floss jedenfalls eine gefährliche Mischung aus Adrenalin und Oxytocin. Das emphatische Volks-Wir war bereit, Elend über die Welt zu bringen – und sich der eigenen Gruppe gegenüber umso fürsorglicher und solidarischer zu verhalten. Alle Massenverbrechen der Geschichte basieren auf diesem Paradox der »selektierten Empathie«. Das selbstlose Wir produziert eine Sicht der Welt, die nahtlos mit der Abwertung aller anderen verbunden ist.
    Im Licht dieser Erkenntnisse müssen wir Individualität womöglich etwas anders bewerten. Der Individualist löst sich aus seinem Kollektiv-Egoismus heraus und beginnt eine Reise. Er begibt sich auf ungesichertes Terrain ganz im Sinne eines Abenteurers. Er wagt es, die Welt auch ohne den verführerischen und bergenden Schutzschild des Wir zu erfahren und zu ertragen.
    Die Kultur des Zweifels
    Die amerikanische Publizistin Elizabeth Gilbert hat mit ihrem autobiografischen Roman »Eat, Pray, Love« so etwas wie eine moderne Bibel der Selbsterfahrung und Selbstwerdung geschrieben. Eine Art Grundbuch der modernen Individual-Kultur.
    Am Anfang der Handlung verlässt sie ihre marode gewordene Ehe, um sich sechshundert Seiten lang nur um die eigenen Gefühle und die eigene Wahrnehmung zu kümmern. Beten. Essen. Lieben. Alles dreht sich um die Selbsterfahrung. Aber dies ist eine Schleifenbewegung, am Ende der Reise ist sie wieder bereit für eine neue Liebe.
    In »Committed«, einem erzählerischen Essay über Bindung und Heirat, besucht Gilbert Jahre später mit ihrem neuen Partner ein Dorf der Hmong, einer ethnischen Minderheit in den Bergen Vietnams. Dort beschreibt sie eine Kultur, in der weder Zweifel an der eigenen Rolle noch Individualität das Leben bestimmen. Sie spürt dabei ihren eigenen nostalgischen Sehnsüchten nach Bindung, nach Unbedingtheit und Eindeutigkeit nach:
    »Die Lebensauffassung der Hmong-Familien lässt sich nicht auf den Punkt ›Du bist wichtig!‹ bringen, sondern auf ›Deine Rolle ist wichtig!‹ Jeder in diesem Dorf schien zu wissen, dass es Aufgaben im Leben gibt – Aufgaben, die Männer zu erledigen haben, und Aufgaben, die Frauen zu erledigen haben. Und jeder muss sein Bestes geben, damit diese Aufgaben erfüllt werden. Wenn dies geschieht, kannst du beruhigt schlafen gehen, mit dem Wissen, dass du eine gute Frau oder ein guter Mann bist.« 5
    In der Verwunderung, in der Sehnsucht, die die passionierte Individualistin Elisabeth Gilbert hier gegenüber einer traditionalen Gesellschaft zeigt, manifestiert sich unsere innere Ambivalenz, ja das ganze Dilemma des Individualismus. Wir werden immer mehr »Eigene«. Wir treffen immer mehr eine individuelle Wahl. Aber um uns selbst als »eigen« zu spüren, brauchen wir ein Gegengewicht. Wenn es keine Norm mehr gibt, an der man zweifeln, gegen die man rebellieren kann – woran macht man dann die Kriterien des Eigenen fest?
    Individualisierung, so scheint es, führt irgendwann ins Leere. In die Einsamkeit. Und genau hier zeigt sich die »seltsame Schleife« des Megatrends Individualisierung.
    Leben in Knappheit – wie es bis vor Kurzem für die überwiegende Anzahl der Menschen Normalität war – bringt

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