Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
Obwohl heute mehr Frauen rauchen, ist diese Tendenz ungebrochen. Rauchen ist in den letzten Jahren plötzlich uncool geworden, und allein das hebt die mittlere Lebenserwartung um weitere Jahre.
Monotone »Maloche« in giftiger Umgebung war noch vor einem halben Jahrhundert ein typisches Männerschicksal. Wer heute in einer Fabrik arbeitet, muss ungleich weniger Schadstoffe einatmen als seine Kollegen 20, 50 oder 100 Jahre zuvor. Wer Wasser aus dem Wasserhahn trinkt, wird sich mit sinkender Wahrscheinlichkeit vergiften. Unsere Nahrung ist, allen periodisch wiederkehrenden Skandalen und Infektionsfällen zum Trotz, freier von Giftstoffen, schädlichen Keimen, Pilzen, Bakterien als jemals zuvor. Auch das spielt eine Rolle: Die Anzahl der tödlichen Verkehrsunfälle in Deutschland (West) ging von fast 21 000 im Jahr 1970 auf unter 4000 im Jahr 2010 zurück, bei mehr als einer Verdoppelung des Fahrzeugbestandes. 4
Weitere lebensverlängernde Faktoren: Allmählich mehren sich die Anzeichen für einen Wandel im individuellen Gesundheitsverhalten. Ausdauersport nimmt zu, Joggen gehört zum Standardverhalten aufwärts strebender Mittelschichten. Zugenommen hat auch die gesundheitsbewusste Ernährung. Vergleicht man den durchschnittlichen Speiseplan eine Westeuropäers im Jahre 1970 mit dem von heute, stellt man erstaunt fest: Wir essen gesünder! Dass der Anteil von (krebserregenden) Räucherwaren, schlechten Kohlehydraten, fettem Fleisch und Alkohol sich reduziert hat, während der Salat-, Frucht-, Gemüseanteil gestiegen ist, merken wir nicht, weil problematische Nahrungsmittel früher kaum registriert wurden. In den sechziger Jahren kam häufig fettes Fleisch auf den Teller, zum einen, weil es kein anderes gab und zum anderen, weil »deftig« eine Pflicht der Nachkriegshausfrau war. Meine Großmutter definierte Butter als »gesund«, was nicht besonders verwundert angesichts der Lebensmittelknappheit im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Vieles, was wir im heutigen Ernährungsverhalten als »ungesund« codieren, ist im Vergleich zu früheren Ernährungsformen völlig in Ordnung. Ein Hamburger widerspricht nicht ausgeglichener Ernährung, wenn man nicht jeden Tag drei davon mit einer Extraportion Fritten isst. Der Megatrend Gesundheit steht erst an seinem Anfang, aber wir können davon ausgehen, dass er in den nächsten Jahrzehnten zulegen wird.
Komprimierte Morbidität
Warum sind wir trotz aller guten Nachrichten nicht in der Lage, die Verlängerung des Lebens als einen Fortschritt, als Zugewinn zu feiern? Warum bilden in jeder Geschichte, jedem Feature, jeder Dokumentation über die Alterung Rollstuhl und Rollator den zentralen Schlüsselreiz? Warum wimmelt es von Diskussionen über »Alterskriege« und »Altersvereinsamung«, »Altersarmut«, »Krieg der Generationen«, »Vergreisung« und »Überalterung« und wie die Sturmgeschütze der negativen Betrachtung eines der wunderbarsten und erstaunlichsten Trends unserer Tage noch alle lauten
mögen? Allenfalls unterbrochen von dummen Reportagen über »Sex im Alter«, was auch nicht richtig heiter macht …
Der wahre Grund liegt in einem falschen, linearen Modell, mit dem wir unsere Zukunft betrachten. Man nennt dies auch die »Ceteris-Paribus-Falle« (»Wobei die übrigen Dinge gleich bleiben«). Oder auch den Kontextirrtum. Beim Kontextirrtum schreiben wir eine Entwicklung, die wir aus der Vergangenheit kennen, in die Zukunft weiter, ohne zu reflektieren und zu verstehen, wie sich durch diese Veränderung die Kontexte, die Umgebungen (mit-)verändern. Wir gehen schlicht davon aus, dass Alter in Zukunft »so sein wird wie früher«. Und früher war es eben – verstärkt durch mediale Wahrnehmungsauslese – schrecklich, alt zu sein.
Ist es tatsächlich wahr, dass eine zunehmende Lebensspanne die Morbiditätsspanne erhöht? Also jene Lebenszeit verlängert, die wir als Behinderte – Alzheimer, Demenz, Bettlägerigkeit, also alle Horrorerscheinungen des hohen Alters – verbringen werden?
Natürlich, sagt jeder. Wie soll es anders sein? Wer älter wird, wird kränker! Sehen wir doch jeden Tag! Altern ist nichts für Feiglinge!
In früheren Gesellschaften war »Altersmultimorbidität«, das Vorhandensein mehrerer Krankheiten und Behinderungen, die Norm, nicht die Ausnahme. Alte Menschen waren fast immer gebrechlich, eingeschränkt, es war das Wesen des Alters. Greise »siechten« in ihren letzten Lebensphasen dahin (oft wurde, in den agrarischen
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