Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
finden. Individualisierungsstress eben.
Diese Kurve des Wellbeings, des Lebenswohlergehens, scheint eine exakte Umkehrung jener Lebenskurve, die wir in der Vergangenheit verinnerlicht haben in der Beschreibung der »Sieben Lebensalter«. Im 19. Jahrhundert wurde die Alterungkurve stets als eine Parabel mit einem Zenit in der Mitte dargestellt: Aufstieg in den ersten drei Lebensjahrzehnten, bis zum Zenit in der
Lebensmitte im Alter von 40 Jahren, dann ein scharfer Abstieg, der ins Grab führt.
Die subjektive Wellbeing-Kurve verläuft inzwischen wie ein U oder V: mit einem Einbruch in der Lebensmitte und einem »Aufstieg ins Alter«, der bis nahe an den Tod heranführt. Erst in den allerletzten Lebenswochen, im Fall schlimmer Krankheiten, verlieren Menschen ihren Lebensoptimismus. Und auch dort nicht alle!
Im Alter erleben wir eine Schwächung unserer Potenziale, aber auch eine Schärfung unserer Fähigkeiten. »Kristalline Intelligenz« ersetzt die fluide Intelligenz der Jugend. Wir wissen öfter, was wir wirklich wollen und können, wo wir im Leben stehen, sprich, unsere Selfness steigt. Wenn wir akzeptieren, dass die Optionen im Alter enger werden, sinkt auch die Ambivalenz gegenüber Entscheidungen; wir quälen uns weniger mit dem, was sein könnte, müsste, sollte. Innenwelt und Außenwelt synchronisieren sich. Laura Carstensen, Psychologin an der Stanford University, nennt diesen Faktor »die spezifisch menschliche Fähigkeit, die persönliche Sterblichkeit zu erkennen und den eigenen Zeithorizont zu gestalten«. Das Altern bedeutet einerseits den Tod der Ambition und andererseits die Geburt der Akzeptanz. 7
Das Lebensgefühl von Amerikanern nach Lebensabschnitten auf einer Skala von 1 bis 10
Entscheidend für das Lebensglück ist der Coping-Faktor: Jedes Bewältigen von Hürden, jede gemeisterte Herausforderung führt zu einer Ausschüttung von Belohnungsendorphinen. Im Alter lernen wir womöglich, unsere Endorphinkaskade besser zu steuern und uns gegen störende Überreize zu schützen. Wer aufhört, unrealistische Ziele erreichen zu wollen, entspannt sich. Wer nicht jeden Tag eine irre Party feiern muss, feiert besser. Was sagte noch der amerikanische Philosoph William James? »Wie angenehm der Tag doch ist, wenn wir aufhören, jung sein zu wollen – oder schlank.«
Die polychrone Biographie
Im industriellen Zeitalter existierten zwei klassische Wendepunkte im Leben: die Heirat, die regelmäßig zwischen 20 und 25 stattfand (danach galt man schnell als »Hagestolz« oder »alte Jungfer« oder war schlichtweg nicht attraktiv genug für den Heiratsmarkt), und – bei Männern – das Rentenalter, der Eintritt in den Nichterwerb, sowie bei Frauen die Menopause. Alle diese Einschnitte beendeten etwas – mit negativer Bilanz. Sie waren ein Verlustgeschäft. Selbst die Heirat wird bis heute oft als ein Abschluss wahrgenommen, weniger als ein Beginn – die bizarren Junggesellenrituale »kurz vor Toresschluss« zeugen davon.
Beide »Demarkationslinien« verschieben sich gegenwärtig, und sie verlieren gleichzeitig ihre Bedeutung. Das mittlere statistische Erstheiratsalter in den europäischen Großstädten liegt heute an oder über der 30-Jahres-Grenze – wenn überhaupt noch geheiratet wird, dann also nahezu ein Jahrzehnt später, mit entsprechend mehr Lebenserfahrung und Selbstkompetenz. Es gibt immer noch Männer, die mit 55 »in Rente« gehen. Aber zunehmend auch mehr, die mit 70 noch – gerne – arbeiten, weil Arbeit für sie eine intrinsisch motivierte, selbstgewollte Tätigkeit darstellt und sie sich weitgehend von entfremdeter Lohnarbeit verabschiedet haben. Man braucht kaum noch zu betonen, dass diese »Selbstmotivierten« die längste aktive Lebensphase haben, dass sie am gesündesten von allen Gruppen altern. Und am meisten Sex im Alter haben.
James W. Vaupel, einer der bekanntesten Altersforscher, schätzt, dass die individuelle Alterung nur zu 25 Prozent von den Genen bestimmt wird. Der Altersverlauf ist fluid, flexibel, voller Überraschungen und fast kaum vorhersagbar. Frauen, die ihr erstes Kind erst mit 34 bekamen, lebten seiner Beobachtung nach am längsten. Wer als Mann mit einer sechs Jahre jüngeren Partnerin zusammenlebt, hat die höchste Lebenserwartung – bei noch größerem Unterschied verliert sich dieser Faktor wieder.
So verschieben sich die Phasen des Lebens in der Langlebigkeitsgesellschaft in mehrerlei Hinsicht. 8
1. Verkürzte Juvenilität: Die Pubertät beginnt
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