Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
Experimentierfelder, in denen wir unserem Leben eine perspektivische Choreografie geben können, die zu uns selbst führt.
Odysseejahre und Weisheitskultur
Halten wir fest: Anders als noch vor 50 Jahren sind die Lebensläufe heute weit individueller, bestimmte Lebensphasen haben sich aufgrund der soziokulturellen Verhältnisse verschoben, und wir müssen den Prozess der Alterung keineswegs nur als
Geschichte des Verlusts lesen. Damit hängt auch das Empfinden des Alters beziehungsweise das altersgemäße Verhalten zusammen und das, was man als »Downaging« beschreibt. Der Begriff besagt, dass unsere »Sozialalter« heute zehn oder 15 Jahre unter denen der traditionellen Gesellschaft liegen. Wer heute 50 ist, verhält sich wie ein 40-Jähriger vor 30 Jahren. Wer 60 ist, wie ein 50-Jähriger. Wer die 60 erreicht hat oder die 70, entdeckt einen seltsamen Effekt: Er schaut aus einem alternden Körper ganz jung in die Welt.
Kennen Sie das?
Wenn wir die Theorie der Memetik ernst nehmen, entstehen kulturelle Veränderungen immer durch »Ansteckungen«. Werte, Normen, Mythen wandeln sich in menschlichen Gemeinschaften durch infektiöse Effekte. Könnte es sein, dass wir uns mit einem neuen Bild des Alterns in Zukunft gegenseitig anstecken? Oder noch radikaler gedacht: dass wir sogar biologisch anders altern, wenn unser Bild des Alterns sich ändert?
Auf den ersten Blick scheint das esoterischer Quatsch zu sein. In unseren Zellen tickt eine programmierte Uhr, die sich wenig davon beeinflussen lässt, wie wir uns fühlen oder was wir denken. Wirklich? Die Psychologin Ellen Langer machte Anfang der achtziger Jahre ein Experiment mit 70- bis 80-jährigen Männern, die in eine Zeit 22 Jahre früher »versetzt« wurden. Ernährung, die Musik, die Zeitungen, alles wurde exakt den späten fünfziger Jahren angepasst. Man hörte sich die Radioreportagen eines Football-Spiels der damaligen Zeit an, man sah einen Film aus dem Jahr 1959. Der Gesundheitszustand der Probanden wurde vorher und nachher gemessen. Nach einer Woche in der Vergangenheit waren sie biologisch gemessen um die zehn Jahre jünger. Sie hörten besser, hatten beweglichere Gelenke, einen besseren Blutdruck, ihr Körper straffte sich und ihr IQ verbesserte sich. Auf Fotos sahen die Probanden deutlich jünger aus. 9 Nun könnte man den Ausgang dieses Experiments auch als simple Regression interpretieren. Aber wir sollten uns fragen, ob sich dieser Juvenilitätseffekt nicht nutzbringend ins Leben einbauen lässt.
Könnte eine neue Alterskultur den Alterungsprozess substanziell verändern?
Zwei Lebensabschnitte sind hier entscheidend: zum einen die Odysseejahre, jene Phase, in der wir herumexperimentieren, ohne uns auf einen Lebenspartner oder einen Beruf oder einen endgültigen Wohnort festzulegen. Entscheidend ist, wie bewusst wir diese Phase durchleben und gestalten.
In den Odysseejahren üben wir den Umgang mit Versuchungen, Abgründen, Stürmen, Freundschaft und Verzweiflung, hoher See. Richard Settersten und Barabara Rey, zwei amerikanische Soziologen, nennen diese Phase »Adultolescence«. Lehr- und Wanderjahre, die eine enorme Auswirkung auf die ganze weitere Biografie haben. Wer in seiner Jugend wie Odysseus »zu Schiff« war, trifft Entscheidungen unter ganz anderen Voraussetzungen. Er hat sich Wahlmöglichkeiten geschaffen. Er weiß eher, zwischen welchen Optionen er sich entscheiden soll.
Die Möglichkeit, seine eigenen Kräfte, Horizonte und Optionen auszuloten, ist historisch neu. Sie ist der eigentliche Luxus der Wohlstandsgesellschaft. Man erkennt Menschen, die eine Odysseezeit erlebt haben, an einem anderen Selbstbewusstsein. Sie denken und fühlen multiperspektivisch. Sie haben Entscheidungen unter verschiedenen Möglichkeiten getroffen. Sie haben sich bewusst für einen Lebenspartner entschieden. Sie haben ihrem »Element«, in dem sie aufblühen, ihren Fähigkeiten lang und hartnäckig nachgespürt. Unter ihnen gibt es überdurchschnittlich viele Kosmopoliten, Kreative und Unternehmer-Typen (im Sinne des Lebens-Unternehmertums, das sich von Ökonomie nicht einschüchtern lässt).
Weisheit kann das Alter an einem entscheidenden Punkt relativieren, und damit sind wir bei dem zweiten entscheidenden Lebensabschnitt. Weisheit besteht nicht darin, alles endlich »ganz genau zu wissen« – das ist im Zweifelsfall Altersstarrsinn. Weisheit besteht in dem Willen und der Möglichkeit, nicht immer recht haben zu müssen. Den Zweifel zu umarmen, ohne der
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