Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
ungepflegt; obwohl er erst 36 Jahre alt war, wirkte der Ökonom wie ein alter Mann. Auf seinem alten Eichenschreibtisch, der nahezu die gesamte Fensterfront umfasste, türmte sich gelbes, verblichenes Papier in großen Stapeln, die mit Gummibändern und Heftklammern zusammengehalten wurden. In der Ecke stand ein Feldbett, das am Gestänge rostige Flecken aufwies. Seit etwa einem Monat war dies sein Nachtlager. Seine Angestellten, zu guten Zeiten rund 30 Personen, waren seit Wochen nicht mehr aufgetaucht. Nur die Hausbesorgerin des Instituts schlief hinten, am Ende eines langen Ganges, auf einem Sofa in der Bibliothek, die Tausende von Bänden der Nationalökonomie, Geschichte und Mathematik enthielt.
Es war sechs Uhr morgens und noch stockfinstere Nacht. Schritte wurden im Treppenhaus hörbar, knallende, polternde Schritte. Krachend flog die Tür auf.
»Sind Sie Genosse Nikolai Dmitrijewitsch Kondratieff?«
»Das bin ich.«
»Kommen Sie bitte mit.«
»Der Grund?« Kondratieffs Stimme klang resigniert und unterwürfig.
»Eine politische Diskussion ist vonnöten.«
So könnten sich Szenen im letzten Jahr abgespielt haben, das Nikolai Dmitrijewitsch Kondratieff in Freiheit verbrachte. Nur wenige Zeitzeugen und Historiker haben sich mit der persönlichen Geschichte dieses ungewöhnlichen Mannes beschäftigt. 1 Im Juli des Jahres 1930 wurde Kondratieff als »Kulakenprofessor« zu acht Jahren Kerker verurteilt. Man warf ihm die Mitgliedschaft in einer (vom sowjetischen Geheimdienst erfundenen) »Bauernarbeiterpartei« vor. Selbst im Gefängnis, bei schlechter Gesundheit, schrieb er noch an fünf Büchern, von denen einige zumindest teilweise erschienen.
Nikolai Kondratieff – oder nach neuerer Schreibweise Kondratjew – wurde am 4. März 1892 als Sohn einfacher Bauern in Zentralrussland geboren. Das wissbegierige Kind wuchs zu einem glänzenden Autodidakten in vielen Fächern heran, von der Ökonomie über die Kunst bis zur Juristerei. Seine Eltern konnten sich die Gebühren für die höheren Schulen nicht leisten. 1911 machte er seinen Abschluss in Ökonomie – als externer Schüler mit außergewöhnlicher Begabung. Schon früh kam er mit der Polizei des Zarenreiches in Konflikt, plädierte für politische Reformen und wurde mehrmals wegen Insubordination verhaftet. 1917 nahm er an der Februarrevolution teil, die Russland ein Jahr lang eine brüchige Demokratie bescheren sollte. Eine Zeitlang hatte er danach einen Regierungsposten inne.
Nach der bolschewistischen Revolution ging er auf Distanz zu den neuen Herrschern. Er gründete 1920 ein eigenes Institut zur Erforschung wirtschaftlicher Dynamik, das von den Kommunisten zunächst geduldet wurde. Im Kontext von Lenins »Neuer Ökonomischer Politik«, die um 1923 marktwirtschafliche Elemente in die Planwirtschaft einführen wollte, war er sogar ein gefragter Denker. Sein moderater Marktsozialismus setzte eher auf die Stabilisierung der Landwirtschaft und die Produktion von Konsumgütern, statt die Schwerindustrie zu forcieren, wie es das sowjetisch-bolschewistische Dogma vorschrieb. Stalin war von Kondratieffs Zyklentheorie zunächst beeindruckt, weil sie eine massive Krise des Kapitalismus
für 1930 voraussagte. Weniger begeistert war er vom zweiten Teil dieser Theorie: Nach dem Kollaps, der im Abschwung des nächsten Zyklus erfolgen müsse, werde der Kapitalismus zu noch größerer Stärke finden. Die sowjetische Wirtschaft hingegen gerate, dank der chronischen Schwierigkeit, realistische Preise und funktionierende Marktmechanismen zu entwickeln, in einen Abwärtstrend.
Hier das lineare, autoritäre Denken der Sowjetmacht, das auf totalitäre Planung aller Lebensbereiche setzte. Dort das systemische Denken in Zyklen und Wellen, in Wandel und Innovation, das Kondratieffs ungewöhnliche Theorie auszeichnet. Mit dem man die Zukunft sehen konnte. Zumindest fast zwei Jahrhunderte lang.
Die Lehren des Mangels
Versetzen wir uns um 200 Jahre in die Vergangenheit, an den Beginn der industriellen Epoche. Die Aufklärung hatte das geistige Klima zugunsten der Vernunft und der Wissenschaften verändert. Die Französische Revolution ließ Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit durch die ganze Welt irrlichtern. Napoleons Feldzüge hinterließen in vielen Ländern bis dahin unbekannte Freiheits- und Eigentumsrechte sowie den Kern der Gewerbefreiheit, niedergelegt im »Code Napoléon«.
Neue agrarische Techniken brachten Verbesserungen in der Versorgung der Menschen. Die
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