Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
Bevölkerung wuchs schneller denn je. Aber etwas war ganz besonders knapp: Kleidung. Im Ausklang der damals herrschenden Kleinen Eiszeit waren die Winter lang, die Sommer oft kühl und feucht. Auf den unbefestigten Wegen durch Europa kam man nur mühsam voran, und obwohl das Handelsvolumen wuchs, gab es wenige Transportkapazitäten. Viele Menschen waren dennoch ständig unterwegs, um Handel zu treiben oder um anderswo ein günstigeres Schicksal zu finden – die ersten Manufakturen, die neuen Eisen- und Kohleregionen, boten die Chance auf ein Einkommen.
In dieser Welt war Kleidung ein entscheidendes »Lebensmittel«. Man lebte mit Kälte und Feuchtigkeit. Selbst die Reichen und Adeligen hatten Probleme, ihre vielen Zimmer warm zu halten. Die
Kleidung bestand nur selten aus rarem Leder, meist aus Filz und Leinen oder aus Schafswolle, Materialien, die sich leicht mit Flüssigkeit vollsogen, durch Schweiß steif und übelriechend wurden und verdarben. Man kann sich den muffigen Geruch gut vorstellen, der in allen Stuben und Kammern hing.
Aus den überseeischen Regionen drang in immer größeren Mengen ein neuer Rohstoff auf den Markt, der die Kleidungsproduktion radikal verändern sollte. Er war saugfähiger, »trockener« und trug sich angenehmer auf der Haut. Er war schneller anzubauen und leichter zu verarbeiten: die Baumwolle. Der Triumph der Baumwolle begann im Jahr 1764 im englischen Lancashire mit der Erfindung der »Spinning Jenny«, einer Spinnmaschine, deren Antrieb noch mit Händen und Füßen erfolgte, die aber bereits acht Spindeln antreiben konnte. Das war der Durchbruch zur Mechanisierung der mühsamen und zeitintensiven Textilproduktion, die bis dahin überwiegend Hausfrauenarbeit gewesen war. Noch einmal befördert wurde der Prozess der Mechanisierung durch eine andere epochale Erfindung, der Dampfmaschine, die bald auch in der Textilproduktion Verwendung fand.
Die Symbiose von Dampfkraft und Mechanisierung mit dem neuen Rohstoff revolutionierte die Kleiderherstellung – und führte zum ersten Konsum-Massenmarkt der Geschichte. Während zwischen den Kolonien und den europäischen Mutterländern nun Dampfschiffe mit riesigen Baumwollballen (aufgrund der Sklavenwirtschaft war der Rohstoff billig) verkehrten, sanken die Preise für Baumwollgarn zwischen 1780 und 1830 um 90 Prozent. Der Textilsektor wurde zum Produktivitätstreiber erst der britischen, dann der europäischen Wirtschaft und trug 1830 bereits zu 25 Prozent zu Wachstum und Sozialprodukt bei.
Die industrielle Textilproduktion steigerte die Lebensqualität der Menschen in einem ungeheuren Ausmaß. Sie verwandelte die Bekleidungsfrage in eine Modefrage, machte Tausende von Stoffarten, Farben, Schnitten möglich. »Es ist das billige Tuch, die billige Baumwolle und der preiswerte Stoff für die Massen, der den typischen Ausdruck der kapitalistischen Produktion bildet«, schrieb der
Ökonom und Zyklen-Theoretiker Joseph Schumpeter. »Die kapitalistische Leistung besteht nicht darin, mehr Seidenstrümpfe für Königinnen herzustellen, sondern darin, sie für jedes anständige, fleißige Fabrikmädchen erschwinglich zu machen.« 2
Am Beispiel der »Baumwollrevolution« lässt sich verdeutlichen, was mit einem »Kondratieff-Zyklus« gemeint ist. Zu einem solchen ökonomisch-technischen Großzyklus gehören immer fünf Bedingungen:
■ Erstens eine alltägliche Knappheit, die einen neuen, großen Markt begründen kann.
■ Zweitens ein Rohstoff, der sich auf neue Weise erschließen lässt.
■ Drittens eine neue Technik, die sich kaskadenhaft ausbreitet.
■ Viertens eine neue Infrastruktur, die große Investitionen erfordert und auf alle Wirtschaftssektoren eine produktivitätssteigernde Wirkung hat. Im Fall der Dampfmaschinen-Textil-Revolution seit Mitte des 18. Jahrhunderts waren dies die Kanalsysteme, die zunächst in England, dann in den flachen Regionen Europas den Transport der Güter, besonders der Baumwolle, beschleunigten.
■ Fünftens eine neue Organisationsweise, deren Methoden dann auf andere Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche übertragen werden. So wie der schwere Pflug im Mittelalter neue Formen von Dorf-Kooperationen hervorbrachte.
Erst wenn alle Faktoren gleichzeitig und kumulativ wirken, entsteht eine Produktivitätswelle, die einen Schub des Wohlstands für weite Bevölkerungsschichten auslöst und die Wirtschaft massiv wachsen lässt. Aber eben auch: die die Kultur verändert, das Zusammenleben von Menschen, die die
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