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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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verzeichnet. Dazu die Angaben über Spesenvorschüsse, die Abrechnungen. Schon am 24. November verzeichnet das Merkbuch Urlaub, aber der ist durchgestrichen, mit Bleistift, und mit demselben Bleistift ist darunter geschrieben: arbeitsfrei. Dasselbe wiederholt sich an Silvester.

    Im Januar 1951 lehnte der Bundeskanzler den Vorschlag des Ministerpräsidenten der DDR , einen Konstituierenden Rat zu bilden, ab und forderte freie Wahlen als Voraussetzung für die Wiedervereinigung.
    Das werde Moskau, schimpft Vater, doch niemals genehmigen, freie Wahlen in der Sowjetzone! Und das wisse der Adenauer ganz genau!
    Im März revidierten die Westmächte das Besatzungsstatut und gewährten der Bundesrepublik begrenzte Souveränität in wirtschafts- und außenpolitischen Belangen; der Bundeskanzler übernimmt das Amt des Außenministers.
    Der glaubt, schimpft Vater, er kann einfach alles!
    Im April unterzeichnen westeuropäische Außenminister den Vertrag zur Gründung der Montanunion.
    Voll von unterdrücktem Stolz, kann man sich vorstellen, erzählt Vater von seiner Prüfung der Bücher bei den Vereinigten Stahlwerken, die in der Montanunion wieder die Bühne betraten, diese Verbrecher.
    Im Mai nimmt der Europarat die Bundesrepublik als gleichberechtigtes Mitglied auf. Bei den Landtagswahlen in Niedersachsen gewinnt die Nachfolgepartei der NSDAP elf Prozent.
    Wir sind wieder wer, schimpft Vater, und wir werden noch mehr.
    Im Juni gewinnt bei der Berlinale Das doppelte Lottchen den Bundesfilmpreis.
    Mutter erkundete sorgfältig die Möglichkeiten, wann sie sich gemeinsam mit dem Sohn den Film anschauen könnte; dass er selbstständig Erich Kästners Buch läse, traute sie ihm noch nicht zu. Sie selbst spitzte sich auf den neuen Roman von Thomas Mann, Der Erwählte, der in diesem Jahr erschien. Dass die SED die Oper Das Verhör des Lukullus von Paul Dessau und Bert Brecht umzuschreiben forderte, dazu schüttelte sie den Kopf, das wird doch nichts mit der Sowjetzone. Ebenso schüttelte sie den Kopf über den Skandal, den in Westdeutschland die nackte Hildegard Knef in dem Film Die Sünderin hervorrief – »Gustav Fröhlich, das war doch dieser Filmschauspieler, der Goebbels verprügeln wollte, weil er sich an seine Geliebte Lida Baarova ranmachte . . .«.
    Außerdem unternahm im Juni der Bundeskanzler seinen ersten offiziellen Staatsbesuch, und zwar in Italien. Die Bundesrepublik wurde Mitglied der Unesco . Die Bundesregierung verbot die Freie Deutsche Jugend, die Jugendorganisation der SED , in Westdeutschland als verfassungswidrig. Im Juli erklärte Großbritannien den Kriegszustand mit Deutschland für beendet; Frankreich schloss sich an, die USA folgten im Oktober.
    Im Juli stirbt auf der Île d’Yeu – im Atlantik, vor der Westküste Frankreichs – Philippe Pétain, ehemaliger Staatschef des so genannten Vichy-Frankreich, Satellitenstaat des Dritten Reiches, im Alter von 95 Jahren. Er lebte dort in der Verbannung. 1945 war er wegen Kollaboration mit Nazideutschland zum Tode verurteilt worden, ein Richterspruch, der später in lebenslange Haft umgewandelt wurde.
    Die Nachricht vom Tod des Marschall Pétain beschäftigte Vater stark. Der Held von Verdun, der Held von Verdun!, wiederholte er immer wieder, der Vaterlandsverräter. Bis zu der Schlacht von Verdun brachte Vater es nicht; 1915 erlitt er in Flandern eine Kriegsverletzung, Granatsplittersalve durch den rechten Oberarmmuskel, die ihm alles weitere Kriegsgeschehen ersparte, zu seiner Erleichterung. Dabei war er 1914 dem Ruf seines Kaisers zu den Waffen begeistert gefolgt.

    »Kaum stand ich zwischen ihnen, gab es vor der Haustür einen scharfen Knall, und im selben Augenblick spürte ich einen starken Schlag gegen den linken Unterschenkel. Mit dem uralten Kriegerruf: ›Ich hab einen weg!‹ sprang ich, meine Shagpfeife im Munde, die Kellertreppe hinab.
    Es wurde rasch Licht angezündet und der Fall untersucht. Ich ließ mir, wie stets in solchen Lagen, zunächst Bericht erstatten, während ich an die Decke blickte, denn man sieht selbst nicht gern hin. In der Wickelgamasche klaffte ein gezacktes Loch, aus dem ein feiner Blutstrahl auf den Boden sprang. Auf der anderen Seite erhob sich der rundliche Wulst einer unter der Haut liegenden Schrapnellkugel.« 6

    Ernst Jünger, zwei Jahre jünger als Vater, erfüllte die Kriegsbegeisterung die ganzen vier Jahre lang und bis tief in die zwanziger Jahre hinein. Er erfand den Kampf als inneres Erlebnis, als höchstes

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