Das Merkbuch
eine andere Gestalt aus ihrem inneren Pantheon – nachlesen, was er am 6. Februar und am 8. Februar 1952 aufschreibt.
»Andauer des klaren Wetters. Frühstück seit langer Zeit wieder auf der Terrasse. – Schrieb am Roman. Ging bei schwer erträglicher Sonnenglut. – Erikas Zustand hoffnungsvoll gebessert. – Zum Thee der Schauspieler Kalser, verzweifelt über seine Einsperrung hier und wütend auf Amerika. – Organisation von Briefen und Schriften zum Diktat. – Tod Georg’s VI . von England. Elisabeth II ., von Afrika unterwegs nach London. Der engl. Thronwechsel. Vorbereitungen zur Bestattung. Alle Könige nach London. Schöne Rede Churchills. Die Queen eingetroffen. Windsor beklagt sich, daß er allein (zu Schiff) reisen muß. Natürlich ein Mr. X Renegatenzeuge im Kommunisten-Prozeß – als ›Überraschung‹. Für wen? Die Verteidiger hätten es voraussagen sollen. – – Geschrieben am Roman.« 7
Nein, daran schrieb Vater nicht, als er am Mittwoch, dem 6. Februar, Steg, Mü. in sein Merkbuch eintrug. Das ist der Namenstag von Dorothea, wie Vaters katholischer Kalender, vermutlich in den ersten Januartagen in München erworben, ausweist. Selige Patronin des Deutschritterordens und des Ordenslandes Preußen, geboren am 6. Februar 1347 in Montau an der Weichsel. Windsor, der sich beklagt, dass er allein, ohne seine kostbare Ehefrau Wallis, zu Schiff nach Großbritannien reisen muss zur Beisetzung seines Bruders Albert, der als König Georg VI . heißt, das ist dessen Bruder David, der ehemalige König Edward VIII ., der 1936 abdankte, um Wallis Simpson zu heiraten, woraufhin ihm Albert als Georg VI . nachfolgen musste, ein heißes Dauerthema der Gespräche von Mutters Freundinnen, insofern sie während der fünfziger Jahre die illustrierten Zeitschriften lasen, die fortlaufend weitererzählten von Edward und seiner Wallis und ihrem tragischen Eheglück. Mutter und Vater misstrauten dem Herzog von Windsor. Sie erinnerten sich an ein Foto, wie Hitler Edward huldvoll in seiner Residenz auf dem Obersalzberg empfängt; und es gab Gerüchte, dass das Dritte Reich ihn als König und Wallis als Königin einsetzen würde nach der Eroberung Großbritanniens durch die Wehrmacht.
Während des Krieges pflegte Vater den deutschen Dienst der BBC abzuhören, Kopf und Radioapparat unter einer Decke, die besseren Nachrichten über den Verlauf der Kämpfe, die Alliierten beim Siegen. Das brachte einen im Dritten Reich in Lebensgefahr – wie Mutter dem Sohn erzählte –, unter der Bettdecke die deutschen Nachrichten der BBC zu empfangen.
Ganz anders als im Falle Frankreichs hegte Vater lebenslang größte Sympathien für Großbritannien, das in seiner Jugend unter dem Kaiser das perfide Albion hieß. Womöglich kam die Sympathie daher, dass sein Kaiser, für den er in den Krieg zog, ein Enkel der Königin Victoria war. Deren Urenkel war Albert, der am 6. Februar 1952 starb, weshalb seine Tochter Elisabeth Herrscherin über das Vereinigte Königreich wurde – so eine bildhübsche junge Frau!, schwärmten Mutters Freundinnen, die Illustrierten und ihre Bildberichte studierend, und jetzt Königin!
Während das Deutsche Reich, muss man festhalten, als Weimarer Republik so entsetzlich unter dem Verlust seines Kaisers Wilhelm litt, dass es sich 1933 freiwillig den irren Kaiser Hitler erkor, hing Westdeutschland seit 1952 treu der britischen Königin an.
Am 1. März gibt das Vereinigte Königreich die Nordseeinsel Helgoland, die es nach der Kapitulation 1945 okkupiert und in der Zwischenzeit als Zielgebiet für Bombenabwürfe genutzt hatte, an Deutschland, an die Bundesrepublik, zurück.
Zugvögel sanglos diese Lüfte teilen, schwärmte der Dichter, der harte Seewind gerbt dir Stirn und Wange . . .
Vater liebte Helgoland. Er blieb doch immer ein Mann der See, obwohl er es nicht zum Kapitän auf großer Fahrt brachte und als Segler bloß zu den Törns auf den Binnengewässern. In den sechziger Jahren wird er als Rentner Ferien auf Helgoland machen, allein, ohne Mutter, immer mal wieder eine Woche. Der Wind, die See, die Weite lindern die Depression, die ihn zunehmend ergreift.
». . . mit diesem Schiffchen bin ich aber heute Morgen von der Columbus-Koje in See gestochen. In der Landschaft viel Nebel, auf See nicht, aber die Sonne wagt sich kaum heraus. Die Nordsee hat soviel Bewegung wie der Krüpelsee bei ›Damenwind‹, aber sonst ganz interessant durch den Schiffsverkehr.«
Jetzt, 1952, schimpft Vater noch ein
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