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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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Stadtteil Findorff, weit entfernt von der Altstadt, in der sich die Pelzerstraße findet: Wie in Stuttgart musste Vater die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, um von seiner Herberge zum Arbeitsplatz und zurück zu gelangen. Dass er sich an manchen Abenden diesen Weg als langen Spaziergang gönnte, um zu entspannen, um abzuschalten, ist unwahrscheinlich.
    Herrn Eckert soll Vater ansprechen, die Bücher von Kühne + Nagel betreffend, am sechsten Tag der Prüfung. Selten erscheinen solche Namen in Vaters Merkbuch.
    Entschlossen, mit Druck schrieb Vater Herrn Eckert auf. Ein anderes Schreiben als an den anderen Tagen, als an diesem Tag bei Kühne + Nagel, Bremen. In der ersten Woche, beginnt man sich die Geschichte auszudenken, ergaben sich unüberwindliche Mühen beim Lesen der Bücher von Kühne + Nagel; verderbter Text. Herrn Eckert will Vater um Lesehilfen angehen – so dringend sein Wunsch, dass er den Mann gleich im Akkusativ aufschreibt.
    Gewiss kein kleiner Angestellter, vielmehr ein Mann mit Überblick, der verworrene Verhältnisse in den Zahlen aufklären kann. Dazu verpflichteten ihn die Verabredungen, die Kühne + Nagel mit der Firma, die Vater zu den Prüfungen entsendet, getroffen hat. Mit Herrn Eckert trifft Vater einen Mann, der in der betrieblichen Hierarchie weit höher rangiert als er in der seinen; der gleichwohl Vater auf dem Laufenden halten soll und Vater gegenüber keineswegs weisungsbefugt ist. Wie der Rechtsprofessor, den der Kriminalkommissar als Zeugen, womöglich als Tatverdächtigen, befragt; kein hierarchisches Verhältnis.

    Das liebte Vater zu erzählen, dass immer wieder mal eines der größeren Tiere ihm Auskunft geben musste, womöglich untertänig. Zwar stand ihm immer vor Augen, wie ihm selber die Karriere misslungen war, wie sein Arbeitsleben ihn nicht auf einem Chefsessel hatte platzieren können – aber solche Szenen entschädigten ihn. Ein wenig. So gewann der Sohn nie den Eindruck, Vater beschreibe sich bei einer niedrigen Tätigkeit, wenn es um seine Arbeit ging: die Bücher prüfen.
    Was das genau bedeutete, wie Vater dabei verfuhr – der Sohn konnte es sich nie richtig vorstellen.

    Den ganzen November und Dezember des Jahres 1951 beschäftigte sich Vater mit Kühne + Nagel in Bremen, wie die Eintragungen im Merkbuch ausweisen. Dazu immer wieder Vorschüsse auf die Spesen, DM 300, DM 200, sodann die Abrechnungen, Vorschuss – Ausgaben – Schuld. Am 3. November erhielt H. Homann DM 30 Vorschuss (in Bleistift geschrieben) auf die Pensionskosten; am Sonntag notiert Vater wieder mal Mittag – wie sonst nur bei der Spinnfaser in Kassel –: Mittagbrot sowie 1 × Kaffee.
    Vom 20. bis zum 24. November schreibt Vater krank, krank, krank, krank, krank in sein Merkbuch; Kühne + Nagel als Arbeitsplatz streicht er durch, ebenso Kühne am Donnerstag (was er normalerweise mit u. Nagel ausgeschrieben hätte); aber genau verzeichnet er den Vorschuss von 200 am Freitag. Er liegt in seinem Bett bei H. Homann in der Erfurter Straße 1 und grübelt, hustend, niesend, mit Fieber, über sein Leben, seine Ehe, seine Karriere, seinen Sohn.
    Am Montag, dem 26. November 1951, ist er zurück im Büro. Das ist sein Geburtstag – er erreicht 58 Jahre –, was zu melden das Merkbuch wieder vermeidet.

    Gab es aus diesem Anlass im Büro oder bei Homann Telefonanrufe von Mutter? Reichte sie den Hörer an den Sohn weiter, damit er gratuliere? Vermutlich gab es eine Postkarte, einen Brief oder ein Päckchen – regelmäßig schrieben sich Vater und Mutter ja Briefe und Postkarten in Ermangelung des Telefons.
    Wie Vater krank schreibt, das ähnelt Herrn Eckert. Er schreibt es größer und mit mehr Schwung als Kühne + Nagel oder Vorschuss DM 200. Als ob die Krankentage mehr Freiheit gewährten.
    Krankheit erlaubt dem kleinen Angestellten, mit gutem Grund der Arbeit fernzubleiben. Das schafft ein wenig Souveränität. Mit umso stärkerem Selbstgefühl kehrt der kleine Angestellte, ist die Krankheit überstanden, an seinen Arbeitsplatz zurück. Schon gar, wenn es an seinem Geburtstag geschieht, den er also nicht freinimmt.

    Damals schrieben die Sitten und Gebräuche der Angestellten noch keine exzessiven Geburtstagsfeiern im Büro vor, Prosecco, Lachs, Mousse au chocolat.
    Vielleicht lud Vater ein paar Kollegen, die ihm besonders lieb waren, am Feierabend auf ein Bier in den Ratskeller, zur Feier des Geburtstags.

    Die Bücher von Kühne + Nagel zu prüfen dauerte bis Weihnachten, wie das Merkbuch

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