Das Merkbuch
Erlebnis, das Wahrheit und Irrtum, Schein und Sein scheidet.
Vater war kein Leser von Ernst Jüngers Kriegsbüchern, sie fehlten in Mutters Bücherschrank. Und der Rechtsnationalismus lag Vater ganz fern. Aber zu seinen Lebensgewohnheiten zählten Hassausbrüche auf Frankreich, den Erbfeind, der den Ersten Weltkrieg gewonnen hatte. So genoss er klammheimlich Hitlers Sieg 1940 und die Erniedrigung des Helden von Verdun, des Marschall Pétain, zum Oberhaupt eines deutschen Satellitenstaates auf französischem Gebiet. Und ebenso genoss es Vater, als der Held von Verdun 1945 als Vaterlandsverräter zum Tode verurteilt wurde. Ebenso genoss er übrigens die Todesurteile gegen den Reichsmarschall Göring und seinesgleichen bei den Nürnberger Prozessen 1946, obwohl er, wenn man ihn danach fragte, die Todesstrafe grundsätzlich ablehnte.
Immer wieder muss man auf die Erwartung verzichten, dass ein Bewusstsein mit seinen Meinungen und Überzeugungen ein sinnvoll, ein widerspruchsfrei geordnetes Ganzes bildet.
Im neuen Jahr heißt das Merkbuch Notizkalender. Es gib keinen Hinweis, weshalb er außerdem TeBe heißt, welche Worte die Formel abkürzt. Er wirbt für sich selbst mit zwei Tagen Schreibfläche pro Seite. Dazu ein Lesebändchen.
TeBe bedeutet womöglich Taschen-Buch, denn dort gehört das Büchlein ja hin, in die Innentasche von Vaters Sakko. Womöglich trägt er es links, auf der Herzensseite, Vater gebraucht die rechte Hand, um es dort herauszuholen, auf den Tisch zu legen und aufzuklappen: an der Stelle, welche das Lesebändchen markiert. Dort hörte er beim letzten Mal mit Schreiben auf.
Womöglich ist das wieder Übertreibung, hinaufmoduliert in Richtung Bedeutsamkeit – aber es liegt auf der Hand: Der kleine Angestellte gönnt sich einen gewissen Luxus im Hinblick auf dies Arbeitsgerät, das sowohl persönlichen als auch offiziellen Funktionen dient.
Wer möchte, erkennt das Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik in dem luxuriöseren Notizkalender am Werk. 1951 nahm das Bruttosozialprodukt um beinahe zehn Prozent zu, ebenso 1952.
Aber was bedeutet Ausgabe G? Existieren außerdem Ausgaben A bis F? Sogar ein H und so weiter?
Sehr viel kürzer als 1951 gestaltet sich der Steckbrief des Kalenderbesitzers auf der Rückseite des Titelblatts. Bloß Meine Adresse und Telephon: 150 ist die Nummer. 1951 gab es noch keine.
Wiederum erkennt man, wie der Lebensstandard der Bundesrepublik sich verbessert.
Von nun an konnte Vater zu Hause anrufen, ob alles in Ordnung sei; und umgekehrt, er konnte angerufen werden. Keine Schreckenstelegramme mehr, der Sohn an der Ferse verletzt, Mutter Fuß gebrochen, Oma mit Schlaganfall im Krankenhaus, Vater tagelang bettlägerig in Bremen.
Stimmen sagten das jetzt an; statt Schrift.
Auf den äußerst knappen Steckbrief seines Besitzers – keine Versicherungsnummer, Kleidergröße etc., gar »für ›Sie‹« – lässt das Merkbuch für 1952 ein Kalendarium folgen, das alle Tage des Monats auf einer Seite aufführt und einem jeden einen Namen zuordnet. So gehört Mutters Geburtstag Pankraz, der des Sohnes fällt dies Jahr auf den Sonntag Exaudi, und an Vaters Geburtstag feiert Konrad Namenstag.
Es handelt sich augenscheinlich um einen katholischen Kalender, dunkelblaues Kunstleder (statt schwarz), roter Schnitt (statt Goldschnitt). Das mag Ausgabe G bedeuten: dass er in Süddeutschland und anderen katholischen Gegenden besser funktioniert als im protestantischen Norden, wo man keine Namenstage feiert.
Es sagt Vater nichts, dass am Sonnabend, dem 5. Januar, da er an seinem letzten Urlaubstag nach Frankfurt zum Betriebsfest seiner Firma aufbricht – Abfahrt 13.30 Uhr, Ankunft 18.30 Uhr – Männer namens Simeon ihren Namenstag feiern dürfen.
Simeon von Trier, am 1. Juni 1035 dort gestorben, lebte zuvor im Heiligen Land, dann in der Normandie, in Rouen und Verdun – Verdun!, die große Schlacht, die Vater trotz seiner kaisertreuen Kriegsbegeisterung versäumen musste.
Simeon von Trier wurde von Papst Benedikt IX. noch in seinem Sterbejahr heiliggesprochen, und die Heiligen stiften die Namenstage des katholischen Kalenders. Mit der Taufe tritt der Christ in den Schutz des Namens ein.
Unsere kleine Stadt liegt auf einem erzprotestantischen Gelände – aber jetzt, nach dem Krieg, strömten Flüchtlinge aus den katholischen Gegenden des Ostens herein, Schlesien. Sie siedelten ein wenig außerhalb, jenseits des Bahnhofs gewissermaßen, on the other side of the tracks; die
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