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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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Frauen verdingten sich für Hausarbeiten; ein katholischer Priester reiste hin und wieder an und vollzog die entsprechenden Riten. Wie der heilige Simeon von Trier, der ursprünglich aus Syrakus stammte, aber in Palästina und in Frankreich die Wahrheit von Gottes Wort bezeugte – unglaubliche Entfernungen im 11. Jahrhundert. Während die Entfernungen, die Vater zwischen seinen Arbeitsorten zurücklegen muss – die Wahrheiten überprüfen, die das Kapital von sich preisgibt – gründlich schrumpfen.
    Unsere kleine Stadt verzichtet auf Feindseligkeiten gegenüber den katholischen Eindringlingen. Bloß eine muffige Unlust im Umgang. Der Sohn saß in der Volksschule, wie sie damals hieß, neben einem Jungen aus Schlesien und hielt sich für seinen Freund. Der Freund erzählte Geschichten von der Diskriminierung – damals kein gebräuchliches Wort –, und der Sohn hörte sie mitleidig an, voller Stolz auf sein eigenes Mitleid.
    Dass die Heimatvertriebenen, wie man damals sagte, in Westdeutschland einigermaßen zurechtkamen, das erleichterte gründlich die Fiktion, sie würden in nächster Zeit zurückkehren dank der Politik der Bundesregierung. Sie würden sich ja hier nicht festsetzen, sie waren nur zu Gast.

    In Vaters Merkbuch für 1952 – dasselbe gilt für ’51 – findet sich eine Deutschlandkarte (ganz hinten diesmal, noch hinter der Abteilung Notizen), die das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 als Normalfall präsentiert, der irgendwie immer noch gilt, insofern Hinterpommern, Ostpreußen und Schlesien bloß unter polnischer respektive russischer Verwaltung stehen (was mühsam zu lesen ist) und nicht etwa substanziell zu Polen respektive Russland gehören.

    Nach dem Betriebsfest in Frankfurt/Main fuhr Vater am Sonntag um 9 Uhr mit dem Zug nach München, wo er um 17.30 Uhr ankam; er vermerkt den Fahrpreis von DM 49 in seinem Notizkalender, denn er rechnet das Fahrgeld mit den Spesen ab.
    Sonntag, den 6. Januar, feiert man den Tag der heiligen drei Könige sowie Epiphanias, was das Erscheinen des Herrn mit der Anbetung durch Kaspar, Melchior und Balthasar, der Hochzeit zu Kana und der Taufe Jesu im Jordan allegorisch verdichtet.
    Was alles Vater und die seinen ganz gleichgültig ließ.

    Von Januar bis tief in den April hinein prüft Vater die Bücher der Steg, München, dieser Gesellschaft zur Verwertung von Heeresgut, in das jetzt amerikanisches Heeresgut eingemischt ist. Wie üblich verzeichnet Vater die Vorschüsse auf die Spesen, wie üblich rechnet er sie in der Abteilung Notizen, rechts unten auf jeder zweiten Seite des Kalenders, ab.

    Vaters Firma erhöht die Spesensätze. Er hat sie in der allgemeinen Abteilung Notizen – wenn das Kalendarium abgelaufen ist – platziert. Kurzreisen von drei Tagen bringen DM 15 als Tage- und DM 12 als Übernachtungsgeld. Bei teuren Orten sind es DM 13 respektive DM 11, bei billigen Orten DM 12 respektive 10. Die Worte fallen auf, billige Orte, teure Orte. Meinen Sie, Kassel zum Beispiel sei ein billiger Ort . . .

    München war gewiss ein teurer Ort. Vater wohnte, wie er am 16. Januar notiert, in der Pension Seifert, Isabellastraße 13, Telefon 33 804 – wiederum kein erreichbarer Anschluss heutzutage. Anscheinend verbrachte Vater die ganze Zeit an dem teuren Ort München, bis April kein Besuch zu Hause. Da wird das neue Telefon gute Dienste geleistet haben beim Austausch mit Mutter und Sohn. Dass das Gerät daheim neu war, wird die Telefongespräche so aufregend gemacht haben wie ein leibhaftiger Besuch Vaters zu Haus. Immer gab’s was zu erzählen.

    Am 6. Februar stirbt George VI ., König von Großbritannien und Nordirland.
    Was Mutter stark beschäftigte. Sie gehörten zu ihrer Inneneinrichtung, die Wochenschaubilder, wie der König und die Königin mit den beiden kleinen Mädchen auf dem Balkon des Buckingham-Palastes die Huldigung seiner Völker entgegennehmen nach dem Sieg der Alliierten über Hitlerdeutschland. Irgendwie feierte sie mit bei den begeisterten Massen. Mutter erzählte dem Sohn immer wieder, wie Goebbels im Radio zu geifern pflegte während der deutschen Bombenangriffe auf London: Natürlich sei das feige und dekadente Königspaar längst nach Kanada geflohen vor der deutschen Übermacht. Wie hingegen jeden Morgen der König und die Königin an den Trümmerplätzen erschienen, sich die Klagen der Opfer teilnahmsvoll anhörten, Trost spendeten und Hilfe versprachen. Viele Jahre später kann Mutter in den Tagebüchern Thomas Manns –

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