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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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richtig als Währung funktionierten – und sie zu rauchen unverzeihliche Verschwendung gewesen wäre –, versuchte Vater in den Blumenkästen auf dem Balkon Tabak anzubauen. Das gelang vorzüglich. Aber die Weiterverarbeitung, bis man die getrocknete und aufbereitete Pflanze in der Pfeife hätte rauchen können, misslang vollständig. Das Zeug stank entsetzlich beim Brennen; nur auf dem Balkon durfte Vater den Knaster rauchen. Und ließ bald davon ab.

    Am 12. April erreichen die Rechnungen einen Höhepunkt. Etwas Unleserliches kostet 15, ein unspezifischer Einkauf 8, Ruth erhält 30 und der Schneider 100.

    Wiewohl mit niedrigem Einkommen geschlagen, ließ Vater sich immer mal wieder einen Maßanzug vom Schneider Hupfeld in Elbersdorf bauen, wie das hieß. Mag sein, dass das sogar billiger war, als einen Anzug aus der Konfektion zu kaufen – vor allem aber charakterisierte Vater seine geringe Körpergröße, die bei einem Anzug aus der Konfektion immer wieder Änderungen an Armen und Beinen erforderte, was den Preis nach oben trieb. Außerdem war es Vater peinlich, wieder mal seine kurzen Extremitäten vom Hausschneider bei Peek & Cloppenburg oder wo abmessen zu lassen. – Doch erhielt auch Mutter hin und wieder ein maßgeschneidertes Kostüm. Oder es rangierte ein Onkel Hosen aus, die dann von Hupfeld für den Sohn umgearbeitet wurden.
    Eine bemerkenswerte Mischung aus Luxuskonsum und Mangelwirtschaft. Einerseits Maßanzüge, anderseits geschenkte Hosen umarbeiten lassen, statt dem Kind neue zu kaufen.

    Tabak, Kaffee, Schokolade, man kommt ins Fantasieren: Vielleicht leistete sich Vater auf seinen vielen Reisen hin und wieder einen Liebesroman? Und es geht um die Geschenke an die Damen?
    In München hieß die Heldin des Liebesromans Erna Freiberger, sie wohnte in der Maximilianstraße 31, zur Untermiete bei Frau Heinz. Vater liebte das Dienstmädchenhafte, Ländlich-Ordinäre an dem Namen »Erna Freiberger«. Aus dem Tabak, den er ihr regelmäßig mitbrachte, drehte sie sich ihre Lullen selber und rauchte sie aus kostbaren Zigarettenspitzen, Elfenbein, Bernstein, Schildpatt, von denen sie eine schöne Sammlung besaß. Am Feierabend machte er sich frisch in seiner Pension Seifert, Isabellastraße – das ist Schwabing – und spazierte dann in der weichen Frühlingsluft hinunter in die Maximilianstraße, den Kopf voll süßer Bilder, ein kleiner, hübscher, dicker Mann von beinahe 60 Jahren.
    Aber damals war er noch nicht dick. Das Fett kam erst langsam zurück, unmerklich, während der fünfziger Jahre, bei so vielen Westdeutschen. Man könnte den Aufstieg der Bundesrepublik in den Megatonnen Körperfett abbilden, die jedes Jahr anfielen. Wobei man nicht vergessen darf, sagt die Psychoanalyse, dass heftiges Futtern auf Depression verweist. Immer wieder brechen in der Seele Löcher auf, die durch Nahrung gestopft werden sollen.

    Maximilianstr. 31/b. Heinz/Erna Freiberger steht in der Abteilung Notizen des Merkbuchs hinten zu lesen, nicht in Vaters Handschrift – vgl. Cardiagol-Coffein –, und es ist dreifach durchgestrichen.
    So wollte Vater den Münchner Liebesroman tilgen, ungeschehen machen, Erna Freiberger zum Verschwinden bringen – aber da hätte er besser die ganze Seite aus dem Kalender reißen sollen.

    Es gab niemals irgendwelche Hinweise, die Mutter bemerkt hätte, dass Vater bei seinen Reisen in Kassel oder Stuttgart oder Bremen Liebschaften unterhielt.

    Toni Keller, Schwetzingen, Karl-Theodor-Str. 14, finden wir hinten im Kalender. Amalie Faller, Frkft., Vogelsbergstr. 44 II . R. Lossow, Bremen-Horn, am Brakenkamp 42 I; sowie E. Lympius, Berlin-Steglitz, Südendstr. 4. Aber diese R. (Lossow) und E. (Lympius) können ebenso Männer vorstellen. Anders Charlotte Kosbab, durchgestrichen: Berlin-Steglitz, Grillparzerstr. 3. Brigitte Reichelt hat Vater ohne Adresse vermerkt, aber so viel Platz gelassen, dass er sie hätte nachtragen können; wozu es nicht kam.

    Toni Keller in Schwetzingen, Amalie Faller in Frankfurt am Main, Charlotte Kosbab in Berlin-Steglitz und Brigitte Reichelt im Nirgendwo – das ist doch eine hübsche Ausbeute.
    Gewiss muten Frauennamen in einem Notizkalender von 1952 anders an als Männernamen. Vater schreibt am 14. April: Dr. Gelbert abgeholt, und das fixiert ein Arbeitsverhältnis. Aber dass demgegenüber – gewissermaßen symmetrisch – alle Frauennamen in dem Kalender Liebesverhältnisse fixieren, das ist doch sehr unwahrscheinlich.

    Wir haben noch gar nichts zur

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