Das Merkbuch
Weilchen auf die perfiden Engländer, die den schönen roten Felsen mit ihren Bomben zertrümmerten, und freut sich, dass das Zerstörungswerk jetzt ein Ende hat und Helgoland wieder uns gehört.
Der Wiederaufbau Helgolands verlief parallel zum Wiederaufbau Westdeutschlands, Modell im verkleinerten Maßstab; und sukzessive kehrte die Bevölkerung, von den Briten 1945 komplett vertrieben, auf ihre Insel zurück. Sie setzte den Ferienbetrieb in Gang, an dem die Westdeutschen zunehmend Gefallen fanden.
Für Sonntag, den 16. März, verzeichnet Vater in seinem Kalender Ausflug nach Waldburg. Das erinnert an den Eintrag Korntal – allerdings findet sich im Adressenteil des Notizkalenders kein Name, der auf einen persönlichen Freund von Vater deutete, der in Waldburg lebte und den er, wie Erich Wertz in Korntal, hätte besuchen können.
Vater unternahm den Ausflug nach Waldburg zu seinem Vergnügen (wie den Ausflug nach L., den er auf der Postkarte an Mutter erwähnt). Womöglich taten sich zu diesem Zweck die Kollegen zusammen, Kollegen aus Vaters Team – wie man damals noch nicht sagte –, Kollegen aus der Steg, München, sodass Vater mit dem Ausflug nach Waldburg doch so etwas wie einen Geschäftsbericht in den Notizkalender eintrug, Beitrag zur Pflege des Betriebsklimas; kein Vergleich mit Korntal.
Dies Jahr schreibt Vater keinen weiteren Ausflug irgendwohin in seinen Notizkalender.
Die Angestellten unternehmen keine einfache Sauftour am Wochenende mit dem Ausflug nach Waldburg. Waldburg ist ein kulturell wertvolles Ausflugsziel.
Es war spätabends, als Vater ankam, könnte man träumen. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloss an. Lange stand Vater auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.
Die Waldburg oberhalb von Waldburg, ein trigonometrischer Punkt, seit die Landvermessung im frühen 19. Jahrhundert einsetzte, ist der Stammsitz des bedeutenden Geschlechts der W., die von 1419 bis 1808 Truchsess von W. hießen; seit 1585 Erbtruchsessen, seit 1628 Reichsgrafen. Die Angestellten, die 1952 einen Ausflug nach Waldburg unternahmen, versuchten deutsche Geschichte zu atmen.
Reichserbtruchsess – Vater liebte solche Worte, die grotesk das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vergegenwärtigen. Reichserbtruchsess des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, repetierte Vater grotesk am Abendbrottisch wegen seines Ausflugs nach Waldburg, Erbtruchsessen, und brachte Mutter und Sohn zum Lachen.
So hielten es die Angestellten von Anfang an, sie suchten an der Kultur teilzunehmen; Sehenswürdigkeiten der deutschen Geschichte betrachten. Während der Bauer oder der Arbeitsmann sich am Sonntag in Waldburg ein ordentliches Besäufnis gegönnt hätte. Hätten zu diesem Zweck gar nicht bis Waldburg reisen müssen, hätten daheim bleiben können.
Schon am 5. März begannen Rechnungen in dem Merkbuch 1952 zu erscheinen, die von den Spesenvorschüssen ganz unabhängig sind: Hess Kaffee 10, Thee 5. Wer immer Hess war: ein Kollege, den Vater zum Kaffeetrinken einlud – aber das hätte weniger Geld gekostet – oder das Geschäft, wo Vater den Kaffee erwarb? Warum schrieb er Thee wie Thomas Mann in der wilhelminischen Orthographie, die in seiner Kindheit herrschte, aber inzwischen längst reformiert war?
Es geht wieder ums Schreiben: Nie war Vater normalerweise genötigt, das Wort Tee zu schreiben. Jetzt, bei der ersten Gelegenheit, fällt er automatisch auf die kindliche Schreibweise zurück.
Alle Einkaufszettel verfasste Mutter, so forderte es die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern noch in den fünfziger Jahren.
Am 20. März schrieb Vater Tabak 4.80, Kaffee 5, Kakao 3. Am 21. März schon wieder Tabak 5 und Kaffee 5. Am 1. April schreibt Vater Tabak und Kaffee DM 20, am 3. April Thee + Schok 5 sowie Kaffee 11.50. Am 4. April wieder Kakao 3.
Womöglich betrieben Vater und die Kollegen einen Kleinhandel mit diesen Gütern, die damals unzweifelhaft zu den Luxuswaren zählten? So etwas wie der Schwarzmarkt nach ’45, in stark verkleinertem Maßstab?
Bürogemeinschaften neigen in solchen Dingen zu harmloser Kleinkriminalität.
Freilich rauchte Vater stark, er verbrauchte viel Tabak. Vor allem rauchte er Zigaretten, aber ebenso Pfeife, was billiger war. Unmittelbar nach Kriegsende, als amerikanische Zigaretten
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