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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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literarischen Bedeutung dieser kleinen Rechnungen außerhalb der Spesenvorschüsse gesagt, Kaffee, Thee, Schokolade, Schneider, Ruth. Gehören sie einfach zum Genre des persönlichen Geschäftsberichts, der jederzeit den Vorgesetzten präsentiert werden könnte als Zeugnis, wie Vater seinen Pflichten als Angestellter tadellos nachkommt?
    Nein, das muss den Vorgesetzten gleichgültig sein, diese Ausgaben für Kaffee, Schokolade, Ruth; so gleichgültig wie Korntal und letzten Endes der Ausflug nach Waldburg (der womöglich im Team das Betriebsklima verbesserte). Während Vater die Eintragungen wie Steg, Mü oder Spinnfaser, Kassel in seiner Imagination nach oben adressierte – ebenso, versteht sich, die Abrechnungen der Spesenvorschüsse –, scheinen diese persönlichen Rechnungen über kleinere und größere Ausgaben (Kakao 3, Schneider 100) ganz ohne Zweiten oder Dritten als Adressat. Unmöglich, an Mutter zu denken oder gar an den Sohn.
    Nein, diese kleinen Rechnungen richtet Vater genau wie Korntal oder Ausflug nach Waldburg exklusiv an sich selber. Ihm sagt es etwas, dass er Tabak und Tee kauft für diese und jene Summe . . .

    Für Erna Freiberger, das süße Mädel in der Maximilianstraße. Tabak, Tee, Schuhe, das sind Liebesgaben. Womöglich traf Vater genau an diesen Tagen der kleinen Rechnungen das süße Mädel. Und wenn er jetzt in seinem Kalender nachliest, dann schaudert es ihn: die konvulsivische Schönheit, die den Liebenden ergreift, wenn er die Szenen der Liebe erinnert. Sie beschwören die kleinen Rechnungen, Zahlen als Erotika, das Bett bei Heinz in der Maximilianstraße, Ernas Duft, die Lust, die sein altes Fleisch erschütterte . . .

    Nein, Vater genoss es, dass er sich allmählich wieder was leisten konnte. Das bezeugen die kleinen Rechnungen. Mutter genoss es ebenso, und dass den Sohn, den Knaben, die Gaben erfreuten, die Vater ihm von seinen Reisen mitbrachte, versteht sich von selbst. Schokolade. Lange Jahre gab’s für die Kinder ja keine Süßigkeiten, keine Bollerchen, nichts zum Schnucken, wie man in unserer kleinen Stadt sagte; die Pakete aus Amerika, von Herbert und Paula Koy, kamen selten. Die Kinder mussten auf das Obst warten, wie die Jahreszeiten es lieferten, die Kirschen, die Äpfel, die Birnen, die Pflaumen. Meist gingen die Jungs gemeinsam auf Beutezug; meist verschlangen sie die Früchte viel zu früh, unreif, und handelten sich verdorbene Mägen ein, das Kotzen. Schokolade dagegen, wie Vater sie von seinen Arbeitsreisen mitbrachte, das war die reine Freude.
    Tabak, Kaffee, Schokolade, genau besehen sind das Gebrauchsgüter wie Schuhe und Kleidung, keine Spur von Luxuskonsum. Doch schleicht sich dieser darüber in die Bundesrepublik ein, wie am Anfang des Kapitalismus, als die Gewürze, der Tabak, der Kaffee, die Schokolade, der Zucker, als der Wunsch nach diesen Genüssen alle Dämme brach. Ebenso lief es in der frühen Bundesrepublik. Langsam, unscheinbar, unmerklich lief er an, der Konsumismus.
    Und gleich begannen die Dichter und ihre Gesellen von den elenden, den kargen, jedoch den wahren Dingen zu schwärmen, die sich Tag für Tag, Stunde um Stunde unwiederbringlich in die Vergangenheit entfernten.

    »Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel, / hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. / Konservenbüchse: / Mein Teller, mein Becher, / ich hab in das Weißblech / den Namen geritzt. / Geritzt hier mit diesem / kostbaren Nagel, / den vor begehrlichen / Augen ich berge. / Im Brotbeutel sind / ein paar wollene Socken / und einiges, was ich / niemand verrate, / so dient es als Kissen / nachts meinem Kopf. / Die Pappe hier liegt / zwischen mir und der Erde. / Die Bleistiftmine / lieb ich am meisten: / Tags schreibt sie mir Verse, / die nachts ich erdacht. / Dies ist mein Notizbuch, / dies meine Zeltbahn, / dies ist mein Handtuch, / dies ist mein Zwirn.« 8

    Das war eine andere Welt als die des neuen Junkers-Quell, für den eine Anzeige in Mutters Lieblingszeitschrift warb. »Noch nie war es so bequem, heißes Wasser in jeder gewünschten Temperatur bis 65° Celsius in Sekundenschnelle zu bereiten. Der entscheidende Vorteil dieses kleinen Durchlauf-Gaswassererhitzers: Die eingestellte Temperatur bleibt stets konstant. – Gerade das, was man am Spültisch und beim Händewaschen sowie beim Brausebad so angenehm empfindet. Sparsam und immer betriebsbereit, ist Junkers-Quell auch für die ärztliche Praxis und für den Friseurbetrieb genau das Richtige!«
    Die tun so,

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