Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
Vom Netzwerk:
hineingleitet, eine interessante Erzähltechnik (wenn wir mit dem Spiel, dies sei Literatur, fortfahren), eine Erzähltechnik, deren Effekt die unbekannten Namen – Zimmermann, Schmidt – steigern. Wir befinden uns orientierungslos im Irgendwo.
    Es sei denn, wir nehmen Zimmermann, Schmidt, Niederbrechen als expliziten Kapitelbeginn. Und das Hotel Stadt Limburg liegt in diesem Dorf – welchen Sinn hätte der Name Hotel Stadt Niederbrechen?
    Eine Firma in Limburg – mit Filiale in Niederbrechen –, deren Bücher vor Vaters Augen mussten. Es finden sich im Gedächtnis keine diesbezüglichen Erzählungen Vaters am Mittags-, am Abendbrottisch, beim Spaziergang in den Wäldern.
    Vater ist verschwunden. Niederbrechen in Niederbrechen, das Hirn voll Kräuselzwirn, möchte man spotten.
    (Das kam erst viele Jahre später, der Zusammenbruch, und der Ort hieß Saarbrücken.)

    Wenn mit Niederbrechen – Schmidt, Zimmermann – ein Kapitel beginnt, dann endet es am 20. Februar, Vater schreibt nach Stuttgart und am nächsten Tag Flughafen Württemberg-Baden. Diesmal wohnt er nicht bei Klara Winkler – deren Name im Adressenteil fehlt, während Erich Wertz, Korntal, getreulich verzeichnet ist –, sondern im Gasthaus zum Ochsen, Stuttgart-Degerloch, Tübingerstr. 9, Telefon 73694, wie er auf dem Notizenfeld verzeichnet.
    Das Stuttgarter Flughafenkapitel reicht bis zum 20. März, Sonntag. Da schreibt Vater von Stuttgart nach Darmstadt in den Kalender. Dann wieder Schweigen, bis zum 23. April, da schreibt Vater Abf. nach Hause.

    Statt der Firmennamen überschreiben jetzt also Ortsnamen die Kapitel von Vaters Arbeitsleben. Eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Wirtschaftsgeschichte zur Topographie.
    Der Satz, ich fahre wieder nach Mannheim, unterscheidet sich gründlich von: Ich arbeite wieder bei Stromeyer. Ist stärker mit Freiheit und mit Bedeutung gefüllt.
    Die Ortsnamen entwerfen einen anderen Raum als die Firmennamen. Einen älteren Raum, einen Raum von größerer Dauer. Die Stadt Mannheim wurde 1607 durch den Kurfürsten Friedrich IV . von der Pfalz gegründet, Stromeyer, wie wir wissen, erst 1887 von Max Stromeyer . . .
    Vater legte also Wert darauf, sich in diesem Raum aufzuhalten. Mit der Eisenbahn durch die Landschaft reisen, regelmäßig, macht träumen. Dass es immer dieselben Strecken sind, erweckt die Lust am Wiedererkennen. Da repetieren die Namen der Orte, an denen täglich der Sohn (der Gymnasiast) vorbeifährt, Schemmern, Friemen-Meckelsdorf, Waldkappel, Wochen um Wochen unerinnerbarer Zeit; da entwerfen Hügelzüge und Talmulden einen Riesenkörper, der den Knaben gleichzeitig lockt und erschreckt; da schweigt man gegen das Plappern der Genossen, weil draußen vor den Zugfenstern die bekannten Bilder schon wieder vorbeifließen wie im Kino und die Augen fesseln, wie man den hin und her zuckenden Blicken von Wolfgang und Heinz-Dieter abliest, die sich gleichfalls schweigend dem Kino überlassen. Dann ankommen in dem Ort, wo man immer ankommt, das erzeugt immer wieder eine durchdringend öde Enttäuschung. Jetzt beginnt die Arbeit. Man hätte in Waldkappel aussteigen und dort ein neues Leben beginnen sollen, unbemerkt.

    Am 25. April, Montag, schreibt Vater Anfang bei Spinnfaser. Also eine Rückkehr zu den Firmennamen. Am 1. März, Dienstag, schrieb Vater – inmitten all dieser leeren Tage – 128 an Hupfeldt. Hinten in der Notizenabteilung findet sich eine Aufstellung, was dem Schneider Heinrich Hupfeldt, Elbersdorf, in vier Raten für zwei Kleidungsstücke zu zahlen ist (Hupfeld oder Hupfeldt: die Schreibung variiert).

    Am 1. März war Vater in Stuttgart. Der Hupfeldt-Eintrag entwirft also tatsächlich einen anderen Raum, den auszeichnet, dass Vater sich körperlich gar nicht in ihm aufhält: den Zeitraum, in dem die Rate an Hupfeldt fällig wird.
    Für den 5. April ist nachzutragen, keine Notiz in Vaters Merkbuch, wie gewöhnlich, dass Winston Churchill als britischer Premier zurücktrat; Anthony Eden, Außenminister und schon lange in Wartestellung, wurde sein Nachfolger. Ein eleganter Herr mit ausgezeichnet lesbarem Oberklassenhabitus. Allein der knappe Schnurrbart und der Seitenscheitel im Silberhaar.
    Mutter beschäftigte Churchills Rücktritt, der Sieger über Hitler gab auf. Wurde aber Zeit, mahnte Vater, als irgendwann am Mittags- oder Abendbrottisch die Rede darauf kam, gut 80 Jahre, viel zu alt; konnte froh sein, dass er ’51 noch mal die Wahl gewonnen hat, nachdem ihn ’45 die Briten,

Weitere Kostenlose Bücher