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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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haarscharf nach dem Sieg über Hitler, abgewählt hatten. Aber man war so gründlich an ihn gewöhnt, träumte Mutter, man wird ihn vermissen. Der Eden ist ein feiner Mann, so Vater tröstend.

    Hinten in der Notizenabteilung findet sich noch eine zweite Aufstellung über Ratenzahlung: betreffend einen Kühlschrank, DM 255 insgesamt, zehn Raten; die letzte wäre 1956 fällig.

    Das charakterisierte die Westdeutschen, dass sie sich in der bunt expandierenden Warenwelt durch langfristige Ratenzahlungen engagierten. Der Messerschmidt-Kabinenroller, an dem der Sohn so innig hing, man hätte ihn durch Ratenzahlung erworben. Aber er bot zu wenig Platz für eine Familie von dreien. Er eignete sich nur für ein Paar (jetzt, im Weltraum, besetzte der Sohn den hinteren Sitz des Shuttles mit seinem besten Freund und Vertrauten, einem Jungen namens Peter, den es gar nicht gab).
    Auf einen Kühlschrank war man damals richtig stolz. Die Anschaffung signalisierte, dass der eigene Haushalt einem gewissen Entwicklungsstand entsprach. Mutter und Vater erzählten dem Sohn, wie in den Wohnungen ihrer Eltern Eisschränke ausschauten, Schränke in der Tat, aus Holz und Metall, in denen Eisbrocken an strategischen Stellen für Kühlung sorgten, Eis, das ein Lieferdienst immer wieder erneuern musste. Kein chemisch-elektrisches Verfahren.

    Das Spinnfaser-Kapitel, das am 25. April begann, reicht bis zum 22. Mai, an dem Vater nach Mannheim, zu den Hommelwerken, reist. Am 3. Juli geht es zu Stromeyer nach Karlsruhe, wo die drei Herren Dietrich, Eichler, Dr. Walter zuständig sind. Am 7. Juli, Donnerstag, liest man Dr. Heckmann bis Donnerstag bei Hommelwerke, und es bleibt unklar, ob Vater denselben Donnerstag (3. Juli) meint, an dem er immer noch bei Stromeyer in Karlsruhe weilt (und mit den Herren Dietrich, Eichler, Dr. Walter konferiert); oder ob Dr. Heckmann bis zum Donnerstag, dem 14. Juli, bei den Hommelwerken in Mannheim anzutreffen wäre, wo Vater mit ihm zusammenzuarbeiten hätte – der Adressenteil führt ihn ja auf, Worms, Dankwartstraße 9, Telefon 4209, also ein Mann, zu dem Vater regelmäßig und persönlich Beziehungen unterhält.
    Jedenfalls liest man am 10. Juli, Sonntag, in dem Merkbuch Mannheim.

    Die Notiz, dass Dr. Heckmann bis Donnerstag bei den Hommelwerken sei, könnte vom Genre her gelesen dasselbe sein wie die DM 128 an Hupfeldt am 1. März, keine Aufzeichnung, sondern Planung, Agenda. Eine solche Art Schrieb findet sich gewiss in den Terminkalendern der Vorgesetzten von Vater, Daten, die die Zukunft antizipieren und Tag für Tag bei den Geschäften zu berücksichtigen sind – so wird am 3. Juli in den Merkbüchern der Herren Dietrich, Eichler, Dr. Walter Vaters Name erscheinen, ebenso in Dr. Heckmanns Merkbuch am 7. Juli.
    Nun könnte man behaupten, schon das legendäre Herrn Eckert sei Planung statt Aufzeichnung gewesen, von Schmidt, Zimmermann, Niederbrechen zu schweigen.
    Was hier schneidet: dass Vater die Räume, in denen Herr Eckert, Zimmermann, Schmidt und ihresgleichen sich aufhalten, tatsächlich betritt (betreten wird), während die Zahlung an Hupfeldt in seiner Abwesenheit erfolgt und er Dr. Heckmann bei den Hommelwerken verfehlt, denn er hält sich ja in Karlsruhe auf (nicht weit entfernt von Mannheim, aber immerhin).
    Man müsste die Parallelstellen in den Notizkalendern von Dr. Heckmann und seinesgleichen kennen. Dann bekäme man den Unterschied zwischen dem kleinen Angestellten und seinen Vorgesetzten in dieser Hinsicht genauestens zu fassen. Dr. Heckmann bis Donnerstag bei Hommelwerke – eine solche Undeutlichkeit bei der Zeitangabe (7. Juli? 14. Juli? vom 7. bis zum 14. Juli?) kann sich kein Chef leisten. Indem er eine chefartige Notiz versucht, bezeugt Vater, dass er keiner ist.
    Das verleiht der Angestelltenexistenz oft eine spezielle Poesie, dass sie das Chefhafte, überhaupt die Gewohnheiten der höheren Etagen, ihren Habitus, verfehlt. Der kleine Angestellte ist ungeschickt, benimmt sich daneben. Das hat Schönheit. Eine Schönheit, die der Chef durchaus verfehlt.

    Das Ungeschick. Ein Meistersoziologe gibt ein Exempel, das Vaters unschuldige Heckmann-Eintragung bei weitem übertrifft. »Der an der Grenze des proletarischen Milieus aufgewachsene Jüngling gehört einer Angestellten-Organisation an, in der er sich mit Fanatismus betätigt. Da er sich nach geistigem Austausch sehnt und offenbar auch in der Jugendgruppe seines Verbandes wenig Gesinnungsgenossen findet, hat er eine Korrespondenz

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