Das Merkbuch
Vater nach der Ankunft am Bahnhof zurücklegen musste; und umgekehrt, wenn es wieder losging). Wir schweigen vom Schnee, der winters die Feldwege verstopfte.
Die größte Unbequemlichkeit, eine richtige Plage, von der sich als Inbegriff der Nachkriegs-, der so genannten schlechten Zeit erzählen ließ, entstand daraus, dass das schöne große Haus am Wald – »die Filla«, wie unsere kleine Stadt sagte – ohne fließendes Wasser war. Irgendwann in den Dreißigern rosteten die Rohre durch; während des Krieges fehlten die Ressourcen für eine Reparatur, und in der Nachkriegszeit schon gar.
So musste das Brauchwasser – waschen, abwaschen, die Klospülung – mittels verschiedener Bottiche aus Metall und Keramik vom Dach aufgefangen werden, der Regen. Und unter bis zu vier Familien verteilt. Das Trinkwasser aber schöpfte man aus einer Zisterne, dreihundert Meter über die Feldwege und den halben Hang hinunter; die beiden Eimer schleppte man an einem hölzernen Joch auf den Schultern. Ein Foto, das Mutter für das Familienalbum verfertigte, zeigt Vater mit dem Joch und den Eimern voll Trinkwasser; er trägt Anzug, weißes Hemd und Schlips und lächelt: wegen des Fotografiertwerdens. Im Hintergrund sieht man vorn gesägte Holzkloben, die noch mit der Axt zerkleinert werden müssen, und weiter hinten eine Wiese und den Wald. Ein sonniger Tag im Vorfrühling; Vaters graues Haar leuchtet hell, und seine Hosenbeine werfen einen scharfen Schatten auf den Weg, den er emporkommt, auf Mutter zu, die fotografiert.
Die Holzkloben. Versteht sich, dass das Haus am Wald ohne Zentralheizung ist, dafür Kohleöfen in jedem Raum. Aber oft genug fehlte Kohle – dann wurde Holz verheizt. Das schnell verbrannte, weshalb bald nachgelegt werden musste – und dann schadete die schwere Hitze, die das Holz so schön erzeugte, den Öfen. Und in manchen Wintern stand nur der falsche Brennstoff zur Verfügung: Braunkohle, die in den Öfen unter Feuer verzwickte Gestalten von Schlacke ausbildete, die Mutter unter Wutanfällen mit dem Hammer zerschlagen musste, um sie zu entsorgen. In einem besonders kalten Winter hängte Mutter in dem schönen großen Mittelzimmer des schönen großen Hauses am Wald ein kleines Quartier um den Ofen herum mit Wolldecken ab, damit sie genug Wärme kriegten. Welche Mahlzeiten Mutter unter diesen Umständen zubereitete? Kochte sie auf den Öfen? – Kein Wunder, dass Mutter das Haus am Wald und die schöne große Wohnung längst verlassen haben wollte und die zehn Jahre unerträglich lang fand.
Und doch schaut der kleine Mann im Anzug und mit Schlips, der auf den Schultern ein hölzernes Joch trägt, an dem rechts und links an Strippen zwei Eimer frisches Wasser hängen, die er mit der rechten und linken Hand festhält, damit sie nicht ausschwingen, souverän aus, selbstsicher, Herr der Lage. Wegen des Lächelns, das aus dem Fotografiertwerden hervorgeht. Aber damit er es aufsetzt, braucht es schon Souveränität.
Am 12. August, Freitag, notierte Vater 5.30 für Kaffee auf dem Datumsfeld. Er befand sich in Mannheim. Geprüft wurde Stromeyer. Am Samstag reiste Vater wieder nach Hause, und Ruth erhielt 50.
Am 12. August stirbt in Zürich Thomas Mann, und Mutter beschäftigte in den nächsten Tagen die Angehörigen mit diesem welthistorischen Ereignis. Vater musste sie trösten, als wäre ein Angehöriger tot.
So ergeht es dem Kulturbürger. Die Kulturheroen, die er verehrt, deren Bücher er regelmäßig mit Andacht liest, treten in seine persönliche Lebenswelt ein. Der Unterschied zwischen primären und sekundären, direkten und indirekten Sozialkontakten schmilzt weg.
Am 8. September, Donnerstag, befand sich Vater zu Hause, das Urlaubskapitel. Kein Eintrag irgendeiner Art im Merkbuch.
Am 8. September reist der Bundeskanzler mit einer Regierungsdelegation nach Moskau. Am 12. September, Montag, unterzeichnen der Bundeskanzler und der sowjetische Ministerpräsident Bulganin ein Abkommen, dass die Bundesrepublik und die Sowjetunion diplomatische Beziehungen aufnehmen; dass die Sowjetunion die letzten deutschen Kriegsgefangenen in die Bundesrepublik entlässt.
Damit hat er die nächste Bundestagswahl in der Tasche!, tobte Vater am Mittagstisch wütend-freudig. Aber das ist doch gut so, begütigte Mutter, die armen Männer müssen doch endlich nach Haus. Was hatten wir da überhaupt zu suchen?, ruft Vater, in den Tiefen Russlands, was wollten wir da? Die Allermeisten, begütigt Mutter, waren doch
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