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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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mit einem Mädchen in der Provinz angeknüpft, das ebenfalls Verbandsmitglied ist. Diese Privatkorrespondenz nun wird von ihm nach Methoden geführt, die der Registraturabteilung eines Großbetriebs würdig wären. Daß die Schriftstücke chronologisch in Mappen geheftet sind, läßt sich noch einigermaßen begreifen. Darüber hinaus trägt aber jede nichtssagende Ansichtskarte den Eingangs- und Abgangsstempel, und die abgeschickten Briefe werden in der stenographischen Urschrift aufbewahrt.« 13

    Immer wieder durchschießen die kleinen Rechnungen Vaters Arbeitskapitel. Wobei man die Ortsangaben wie Vorzeichen lesen kann. Mannheim: 19.50 Hemd, 11 Krawatten, 14 Briefmarken, 5.30 Kaffee, 3.20 Tabaktasche. 6 Marken, 3 Bügel, 4 Telefon. 5.90 Strümpfe, 5.30 Kaffee, 7.50 Hut, 3 Combizym, 3 Tabak. 5.30 Kaffee. 50 Ruth – wozu man sich als Vorzeichen Vaters Wohnort denken muss, hier übergab er der Ehefrau 50 Mark. – Nochmals Mannheim: 13.50 Marken, 3 Bücher. Dann beginnt am 24. August das Urlaubskapitel, das bis zum 18. September vollkommenes Schweigen erfüllt.

    Marken, Briefmarken, dass Vater welche kauft, erklärt sich daraus, dass der Sohn angefangen hat, sich mit einer Sammlung zu beschäftigen. Der Sammlung, die von früher, aus Vaters Vergangenheit, herumlag. Es behagte Vater, dass der Sohn sich für seine alte Sammlung interessierte – das erleichterte ihm die Auswahl der Mitbringsel, die bei jeder Rückkehr nach Hause fällig waren. Also Briefmarken. So wie Bücher das ideale Mitbringsel für Mutter abgaben.

    Am 19. September heißt es dann Abfahrt nach Frankfurt am Main, Einfuhr- und Vorratsstelle, Adickesallee 40. Und am nächsten Tag ist Dr. Petzel verzeichnet, 5. Stock, Zi. 507. Eine Bleistiftkorrektur notiert Zi. 318 im 3. Stock. Am nächsten Tag ist verzeichnet, dass Vater zu Haufs umgezogen ist, Elefantengasse 14. Im Notizfeld der Woche hält Vater 50 441 als Auftragsnummer und das Zimmer 110 im 1. Stock der EVS t fest. So ging es hin und her bei dieser Prüfung der Bücher.

    EVS t heißt Einfuhr- und Vorratsstelle statt (Ehemals) Vereinigte Stahlwerke (deren Adresse in Frankfurt/Main unauffindbar blieb – jetzt ist sie eindeutig: Adickesallee 40). Wir befanden uns in einem Roman, als wir neulich Vater in Berührung mit dem besonders verruchten deutschen Kapital wähnten (Friedrich Flick), die Bücher der aufgelösten VESTAG prüfend.
    Die Einfuhr- und Vorratsstellen werden 1950 bis 1952 aufgemacht, um die Märkte für Getreide und Futtermittel, für Fette, für Zucker, für Schlachtvieh, für Fleisch und Fleischerzeugnisse zu regulieren, das Verhältnis zwischen Importen und eigenen landwirtschaftlichen Produkten abzustimmen. Also keinesfalls das dämonische deutschnationale Kapital, im Gegenteil, dieser sozialdemokratische Reformismus, der Westdeutschland von vornherein prägte.

    Das Frankfurt-Kapitel dauert lang, bis zum 25. November. Am 26. November, seinem Geburtstag, verzeichnet Vater Urlaub; gestern kam er nach Hause, am nächsten Mittwoch bricht er um 16 Uhr, wie er aufschreibt, mit Dr. Gelbert nach Kassel auf.
    Während des Frankfurt-Aufenthalts kommt Vater regelmäßig nach Hause, jedes Wochenende, wie er jedes Wochenende notiert (Fahrtkosten 16).

    Wieder fehlt ein schwerwiegendes Ereignis aus seinem Familienleben in dem Merkbuch. In diesem Jahr verlassen Vater, Mutter und Sohn endlich das Haus am Wald und ziehen in eine Wohnung, die näher an unserer kleinen Stadt liegt.
    Das bildete ihren persönlichen Abschluss der Nachkriegszeit. Zehn Jahre hatten sie hier gelebt, von 1945 bis 1955, zuerst nur in zwei Zimmern, dann in dreien, die von schöner Größe, aber im Winter schwer zu heizen waren. Draußen, in den Wäldern und der Landschaft, boten sich dem Sohn großartige Möglichkeiten zum Spielen und Abenteuern und Träumen (die Flüge mit dem Kabinenroller); winters kamen Rodeln und Skilaufen hinzu.
    Für Großstädter, die wie Mutter die Großstadt hassen, eine idyllische Szenerie, das Haus am Wald, und Mutter erfreute sich oft an diesen Schönheiten. Aber ebenso schimpfte sie immer wieder heftig über die Nachteile – dass es ganze zehn Jahre brauchte, bis sie eine bessere Wohnung auftaten, empfand sie als schwere Niederlage, als Richt- und Schicksalsspruch über ihr Lebensglück und ihre Lebenstüchtigkeit.
    Unbequem waren nicht nur die Feldwege, die man hinter sich bringen musste, um in unsere kleine Stadt zu gelangen für die Einkäufe (für die Schule, für den Heimweg, den

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