Das Merkbuch
Korrektheit prüft, ausschließlich als Lügen und Fälschungen, die er aufzudecken hat.
Am nächsten Tag kehrt der Sohn stracks aus dem All zurück. Und verzeichnet in seiner krakeligen, ungeübten Kurrentschrift – dies Jahr wird er 13: Mutter nach Kassel gefahren. Ins Krankenhaus.
Die Gründe fehlen in Mutters Merkbuch; in dem von Vater sowieso. Dem Sohn wurden sie gewiss verschwiegen, Frauenleiden, wie man damals sagte. Mutter wird in diesem Jahr 48.
Der Sohn nutzt den Automatismus des Kalenders für seine Aufzeichnungen: einfach Tag für Tag was aufschreiben.
Ich wohne bei Tante. Fernsehen.
Mit den Hunden spazieren gegangen.
Brief an Mutter geschrieben. Geschlachtet. Fernsehen.
Tante ist krank. Fernsehen. Alles klebt nach dem Schlachten.
Goebels zu Besuch gekommen. Hesses abgefahren. Im Kino gewesen und Fernsehen.
Schule angefangen, war ganz schön.
Mutter wiedergekommen. Aber viel früher als vorher angenommen.
Papa gekommen. Briefmarken bekommen. Herrlich.
Leider wieder in die Schule.
Das erste Mal wieder mitgeturnt.
Gottseidank keine Mathematik.
Arbeit geschrieben. War nicht schlimm.
Wollte ins Kino gehen. Leider nicht jugendfrei. Die Faust im Nacken.
Arbeit zurückbekommen. Eine andere geschrieben.
Nicht in der Turnhalle geturnt. Zu kalt.
Bei Hadie auf dem Geburtstag gewesen.
Mit Reinhard Ski gefahren.
Furchtbar kalt. Skier an Kunkel verkauft, 5 Mark. Abends lange auf gewesen.
Heute schulfrei. In der Stadt gewesen. Abends Hörspiel gehört, Camino Real.
Heute fahre ich nach Kassel.
Lange geschlafen. Der Geburtstag von Reinhard war herrlich. Bleibe noch länger.
Neben diesen Aufzeichnungen in krakeliger Kurrentschrift, die sukzessive die Datumsfelder füllen, finden sich Einzelworte in Druckbuchstaben, Ferien, Schule, Flötenstunde – in derselben Schrift, in der die Merkurianer angreifen.
Formal gesehen versucht der Sohn hier strikt dem Vorbild Vaters zu folgen, wenn der Tag für Tag Steg/Stuttgart oder Urlaub Urlaub Urlaub schreibt.
Aber der Sohn schreibt es prospektiv, für die kommende Zeit. Und die Druckbuchstaben signalisieren, dass dies gewissermaßen eine offizielle Mitteilung ist.
So antizipieren die Regeln der Schule, wie gesagt, die Regeln des Arbeitslebens. Die Agenda, Zeitplanung, Dr. Heckmann bis Donnerstag bei Hommelwerke.
In das Notizenfeld unterhalb des 28. Januar schreibt der Sohn in diesen ungelenken Druckbuchstaben: Wir haben jeden Sonnabend frei. Wahrscheinlich bis Ostern.
Danach finden sich keine Eintragungen mehr in diesen offiziösen Druckbuchstaben, Ferien, Schule, Flötenstunde. Der Sohn kehrt uneingeschränkt zu seiner Kinderschrift zurück.
Zwar durfte er nicht an die heiligen Akten in Vaters heiliger Aktentasche, um sich eine Vorstellung von Vaters Arbeit mit den Büchern zu bilden, aber der Vater ließ den Sohn seine Notizkalender anschauen und erklärte ihm die Eintragungen, Steg / Stuttgart, Spinnfaser / Kassel, Stromeyer / Mannheim. Und auf diesen Extrafeldern hier unten, statt mit einem Wochentag und einem Datum überschrieben mit Notizen – kannst du das lesen? –, schreibt man halt auf, was durchgehend für mehrere Tage, für einen ganzen Zeitraum gilt. Und so schreibt der Sohn auf das Notizenfeld unterhalb des 28. Januar: Wir haben jeden Sonnabend frei. Wahrscheinlich bis Ostern.
In der Gestalt von Ferien und schulfreien Tagen lernt der Schüler die Freiheit kennen, die sich dem Angestellten zuweilen in der Gestalt von Urlaub und arbeitsfreien Tagen eröffnet.
Am 5. Februar, Samstag, findet sich im Merkbuch von Mutter der dritte Eintrag dieses Jahres. Weder Aufzeichnung geschehener Taten noch Planung künftiger: Mutter hat die Seite, die den Zeitraum vom 5. Februar bis zum 8. Februar umfasst, mit Bleistiftstrichen in rechteckige Felder aufgeteilt, ganz unabhängig von Datum und Wochentag. Ein jedes dieser Kästchen enthält eine Liste von Zahlen und Buchstaben, X D , X K ; H 9, H 8, Pieh B , H e B , H e D , H 7 – die Sache wird nicht verständlicher, wenn wir die ganze Seite abschreiben.
Jedenfalls verwendet Mutter das Merkbuch in keiner Weise nach dem Vorbild von Vater, vielmehr wie ein Notizbuch mit freien Seiten, ohne jeden Vordruck, der die Eintragungen reguliert.
Ein anderer Code, möchte man träumen, mittels dessen man verschlüsselte Botschaften auflösen kann. Eine Geheimschrift.
Man kann bezweifeln, dass diese Listen in Mutters Handschrift verfasst sind. Ebenso unwahrscheinlich, dass es der Sohn war – wie bei
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