Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
Vom Netzwerk:
der Empfindung, fest und frisch, öffnete sich; auf dem Höhepunkt hatte er ein Gefühl, als überschlage er sich; der Zeuge in ihm stand Kopf. Die Empfindung, wäre sie ein Geräusch gewesen, war schrill, drang durch diese Welt in eine andere, keine schmutzige Welt, eine reine. Er war zu unschuldig, um an die Flecken zu denken, die er auf dem Laken hinterließ, und einmal, in einem Wutanfall, erwähnte seine Mutter sie, aber die Kluft zwischen ihrer Person und diesen kopfstehenden Empfindungen war so groß, dass er sie nicht überbrücken konnte und er im Kopf ganz leer wurde und seiner Mutter keine Antwort gab. Es gelang ihm im späteren Leben, allein oder im Körper einer Frau, nie mehr, diese anfängliche, das Unterste zuoberst kehrende Intensität wiederzuerlangen – dies Gefühl einer immer süßeren, immer engeren Straffheit, die einen Blick auf eisiges, vernichtendes Licht unter seinen Füßen gewährte.« 14

    Auf einer der letzten Seiten des Notizenteils im Kalender notiert Vater einen Vers. »Bedächtig äußert sich der Weise, / annähernd und nur bedingungsweise.« Dann schließt in Druckbuchstaben Arctuvan an, ein Mittel gegen Harnleiden.

    Zunehmend körperliche Beschwerden. – So etwas wie ein Gedicht entdecken wir zum allerersten Mal in Vaters Merkbüchern.
    Er hat es selbst geschrieben. An seinem Schreibtisch bei Stromeyer in Mannheim sitzend, stellt man sich vor, kam er urplötzlich auf die beiden Zeilen. Sie charakterisieren ihn selbst. Er ist der Weise, der alle klaren Aussagen vermeidet und so unangreifbar wird.
    Die Alltagsstrategie des kleinen Angestellten im Büro, halte dich bedeckt.
    Ein klingender Reim, der Weise / bedingungsweise. Ein Zeichen von Schwäche, Misslingen. –
    Oder anders. Vater hörte den Ausführungen eines Vorgesetzten zu, Dr. Schlögl, Dr. Petzel, Dr. Gelbert, als er auf die beiden Zeilen kam. Was er sah und hörte, drängte zur Schrift. Die Unentschlossenheit der Chefs.
    Oder noch einmal anders: Kommunikation unter Kollegen. Man sitzt sich an den Schreibtischen gegenüber und plaudert, plaudert über die Chefs und ihre Macken – wie Schüler über ihre Lehrer –, und einer kriegt eine Pointe hin. »Bedächtig äußert sich der Weise, / annähernd und nur bedingungsweise« – so war’s eben doch wieder mit Dr. Schlögl, haargenau so, kein klares Wort, nur Zögern und Drumherumreden. Gelächter. Vater gefällt der Vers so gut, dass er ihn aufschreiben muss.
    Harnleiden, so die Psychoanalyse, hier entdeckt man Urethralerotik und den Ausfluss von Ehrgeizkonflikten.

    In einer allerletzten Eintragung im Notizenteil – bevor die am Rand perforierten Blätter beginnen, von denen Vater wieder viele ausgerissen hat – findet sich eine merkwürdige Tabelle aus Einsen, Zweien und Nullen.

    Ein Gedicht, wenn dies alles Literatur wäre, dasjenige Gedicht, welches die Lebensgeschichte, die Philosophie, die Schmerzen von Vater am eindrücklichsten mitteilt; stärker Autobiografie als alle anderen Eintragungen. Aber man kann das Gedicht nicht lesen. Ein perfekt hermetisches Gedicht.

    Oder anders. Vater hatte, wie viele seinesgleichen, im Fußballtoto zu wetten begonnen. Es müsste doch möglich sein, mit Hilfe von Fortuna das Einkommen zu vergrößern, magisch ins Riesenhafte zu steigern. Als Spezialist für Bilanzen und Tabellen, als Kenner der regelmäßigen Muster, die sich in ihnen abbilden, suchte er solche Regelmäßigkeiten auch in den Totoergebnissen. Wenn er sie fände, wenn er sie das nächste Mal beim Wetten berücksichtigte, könnte er der Göttin Fortuna tüchtig Beine machen: Das Vermögen, das ihm zukäme, wäre dann doch verdient, ein Ergebnis seiner geduldigen Arbeit.
    Ihr Ergebnis ist der Code in seinem Merkbuch.

Auch 1956 verwendet Vater als Notizkalender das Werbegeschenk der Vereinigten Glanzstoff-Fabriken, den Freunden unseres Hauses, mit dem strahlenden Logo auf der Außenseite.
    Im Innern kam es zu Vereinfachungen. Keine Federzeichnung der Hauptverwaltung in Wuppertal-Elberfeld, kein Foto von den Spulen mit den wohlgestalt aufgewickelten Zwirnen und den Wölkchen Zellwolle im Urzustand. Dafür zwei Seiten mit den Namen der beteiligten Firmen und deren Logos, Glanzstoff (die Zentrale), Bemberg (frisch dazu), KUAG (Kunstseiden-Aktiengesellschaft), Flox (Spinnfaser). Bemberg in Wuppertal-Barmen ist es, das die Produktliste erweitert: Cupra Bemberg und Zellglas Cupraphan; das Werk Augsburg webt modische Kleider-, Blusen- und Wäschestoffe.

    Die Expansion

Weitere Kostenlose Bücher