Das Merkbuch
ein Einzelkind, womöglich ein Muttersöhnchen ist, ohne Konkurrenz- und Rivalitätserfahrungen. Vater, dauernd unterwegs, konnte seinen Einfluss kaum zur Geltung bringen.
Ödipus mit Jokaste allein zu Haus, so die Psychoanalyse, während Laios draußen in der Welt sein Brot verdient.
Festzuhalten ist, dass sie sich mit traditionellen Karten- und Brettspielen beschäftigten. Keine Spur einer Vorausdeutung auf die Computerspiele der Zukunft – aber die Nautilus und der Kabinenroller deuten auf die Erfindungen der Star-Wars-Filme voraus, in denen der Sohn, so viele Jahre später, die Ausführung seines eigenen Weltallfantasierens von damals bewundert. Han Solo und sein Weltraumjäger, der Todesplanet, vor allem die seltsam geformten Städte auf den fernen Planeten (der Sohn besaß ja eine eigene, durch den Weltraum schwebende Stadt, unter einer Art Käseglocke aus dem Plexiglas von Röhm & Haas).
Festzuhalten ist außerdem, dass der Knabe, der so gern ins Kino geht, regelmäßig Hörspielen lauscht, Camino Real von Tennessee Williams, Herrenhaus von Thomas Wolfe nennt er beim Namen, zwei Exempel der amerikanischen Literatur, die, wie das amerikanische Kino, tief in die westdeutsche Seele eindrangen seit 1945. Herrenhaus, ein Theaterstück, das westdeutsche Bühnen gern spielten in den Fünfzigern, erzählt so eine aristokratische Verfallsgeschichte aus den im Bürgerkrieg unterlegenen Südstaaten. Am Ende wirkt Eugene, der Erbe, zum Arbeiter abgestiegen, mit am Abbruch des väterlichen Hauses.
Das Herrenhaus im Gau Deutsch-Sewastopol, möchte man spotten, das der Führer Onkel und Tante und ihresgleichen nicht hatte verschaffen können . . .
Camino Real ist hingegen so ein allegorisches Traumstück mit undeutlichen Personen und unklarer Geschichte – kein Erfolg auf westdeutschen Theatern, ganz anders als die südstaatlichen Ehe- und Familiendramen von Tennessee Williams. Sie erlebten sie ja täglich, die Nachkriegsdeutschen. Bizarre Familien, in denen Onkel und Großmütter Väter und Mütter ersetzten; die Kriegstoten, die als Porträtfotografien auf der Kredenz standen (ein unterdessen verschwundenes Möbelstück); die Erinnerung an Nationalverbrechen, Flüchtlinge, Bombenkrieg; Fantasien von Erbhöfen auf der Krim.
Familiendramen, die im westlichen Mitteldeutschland der fünfziger Jahre Vater, Mutter und Sohn in der Gestalt von Karten- und Brettspielen einander vorführten.
Bis zum 19. Mai bleibt Mutters Merkbuch erneut vollkommen stumm. Die Datumsfelder zwischen dem 20. Mai und dem 26. Mai – Vater arbeitet anhaltend bei den Hommelwerken in Mannheim (Universalwerkstättengerät) und reist am 23. Mai zu Stromeyer nach Recklinghausen – verwendet Mutter wieder für Abrechnungen von Kartenspielen zwischen R. R. und M. R.; Siege und Niederlagen verteilen sich fifty-fifty, kein Grund für den Sohn, in Wut oder Tränen auszubrechen.
Und dann wieder Schweigen.
Das Mutter am 1. Juli bricht, um plötzlich ein richtiges tagebuchartiges Aufzeichnen anzufangen (wie es der Sohn die ganze Zeit versucht – wobei ihn Mutter beobachtete).
Das Kalendarium legt eigene Schreibregeln fest: Mutter, die schon die ganze Zeit das Merkbuch so wie ihr Sohn nutzen möchte, aber immer wieder davon abkommt über den Tagesroutinen, setzt sich, gleichsam mit Gewalt, einen Monatsanfang, den 1. Juli, als Ausgangspunkt des Schreibens.
Erster guter Sonntag. Sonnenwetter. Fahrt nach Beiseförth, ca. 38 Kilometer.
Dauerwellen, Sonne, Hupfeld, Becher.
Regen. Fahrrad ausgestattet zurück. DM 36.
Veränderliches Wetter. Gartenhaus aufgebrochen.
Vormittags Regen. Mittags Sonne, sehr windig. Arhelger zugesagt. Garten gearbeitet.
Per Rad nach Melsungen. Madrigalchor Eisenach. Erste Nachtfahrt.
Erstes Mal gebadet. Müde. Sonne.
Regen.
Kasselfahrt. Amerikahaus, Wüstenrot. Film: Alle Herrlichkeit auf Erden.
Nie dagewesene Überschwemmung, Regen den ganzen Tag. »Flusswanderung«.
Garten gearbeitet, sehr nass. Gewitter. Geschrieben.
Wallenstein.
Othello.
Und dann, am 22. Juli, setzt schon wieder Schweigen ein, das am 25. Juli ev. Edersee unterbricht, das ist Agenda, der Plan zu einer kleinen Reise. Die Aufzeichnungen des Sohnes ergänzen und kommentieren den Tagebuchversuch von Mutter.
Schönes Wetter. In Beiseförth, bei Umanns. Beiseförther Quelle getrunken, nicht schlecht. Morgens Kindergottesdienst.
Schwer aus Bett gekonnt. Abends Kabarett Insulaner gehört. Karajan. Fahrrad gefahren und Schalttafel für Häuschen
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