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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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beschäftigt den Knaben – Vater wollte, wie der Sohn sich immer wieder erzählen ließ, Seemann werden als Jüngling, Kapitän auf großer Fahrt. Und jetzt ist Vater unendlich unterwegs, nicht zu Wasser, aber zu Lande. Und Kühne + Nagel sowie Stromeyer, deren Bücher Vater prüft (was immer der Sohn sich darunter vorstellen soll), sind als Betriebe intim mit dem Wasser befasst, wie aus Vaters Erzählungen hervorgeht. Dem Knaben bleibt unklar, ob er Vaters Abwesenheit genießen und ihn dauerhaft in die Ferne wünschen oder ob er selber wie Vater endlich fort sein sollte, auf dem Meer, im All.

    Mutter fährt fort, den Kalender als Notizbuch zu verwenden, ohne Rücksicht auf den Vordruck der Daten und Tage. Am 16. Februar steht Frau geschrieben, eine abgebrochene Notiz, vermutlich Agenda, die aber wahrscheinlich ohne Bezug zu dem Datum ist; einfach das Büchel aufgeschlagen und die Notiz angefangen, als die Schreiberin unterbrochen wird (weil der Sohn aus der Schule kommt). Am 26. Februar, Sonntag, beginnt Mutter eine lange Rechnung, die sich bis zum 28. Februar hinzieht und in keiner Weise mit diesen Daten zusammenhängt: Wie dividiert man 32 durch 36? Anders als bei Vater – Spesenvorschüsse und ihr Abtrag, Einkauf von Krawatten, Briefmarken, Schokolade, Büchern – fehlt jeder Hinweis, was Mutter hier abrechnet oder entwirft. Geht es um Menstruation, die weibliche Periode?
    Für den 1. März und den 2. März füllt Mutter die Datumsfelder (unabhängig von ihnen) in Bleistiftschrift mit einer Liste von Blumen aus, deren Samen zusammen 4.50 kosten. Zinnien, Verbenen, Kapuzinerkresse, Tagetes, Sommermohn, Cosmea, Ringelblumen, Zwergastern. Die Liste ist ausgekreuzt: Mutter hat alles besorgt.
    Den 3. März, Sonnabend, füllt (zufällig) eine andere dieser Rechnungen (vgl. diejenigen Vaters): Bademantelstoff, Schnitt für Bademantel, Schnitt für Kleid, Knöpfe f. gr. Kostüm, in Summa 6.30.

    Das gehörte damals zur normalen Hausarbeit der Hausfrau, das Schneidern nach Schnittmusterbögen, die in einschlägigen Zeitschriften zu finden waren, den Bademantel, das Kleid – während sie gleichzeitig Heinrich Hupfeld in Elbersdorf mit komplizierten und kostspieligen Arbeiten betrauten, die in Raten abgezahlt wurden; unentschlossene Mangelwirtschaft ebenso wie Luxuskonsum.

    Zwischen dem 8. März und dem 10. März finden sich weitere Rechnungen dieser Art, Tasche, Schuhe, Bügel. Auf das Datumsfeld des 12. März schreibt Mutter einen Stundenplan des Sohnes ab, 8.12 Uhr bis 8.55 Uhr Englisch, 9.05 Uhr bis 9.42 Uhr Deutsch, 9.46 Uhr bis 10.20 Uhr Biologie, 10.24 Uhr bis 11.30 Uhr Erdkunde, 11.34 Uhr bis 12.18 Uhr Sozialkunde, 12.30 Uhr bis 13.14 Uhr Religion. Kein Hinweis, warum Mutter den Stundenplan des Sohnes in ihr Merkbuch kopiert, und man kann auch nicht sicher sein, dass es der Stundenplan für den 12. März ist, denn Mutter scheinen die Datumsfelder ja ganz gleichgültig.
    Ebenso auf der nächsten Kalenderseite: wieder eine Kartenspiel-Abrechnung. R. W. gewann mit 314 Punkten; es folgten M. R. mit 287 und R. R. mit 271 Punkten. Canasta kann es nicht sein, da fallen immer viel mehr Punkte an.
    Woraufhin bis zum 20. März wieder völliges Schweigen herrscht, und dann enthalten beide Seiten, 20. Mai bis 26. Mai (plus Notizenfeld), welche Punkte R. R. und M. R. bei diesem Kartenspiel gewannen, 54 und 107, 150 und 128, 141 und 228.

    Kein hermetisches Gedicht, wenn es denn hier um Literatur gehen soll, vielmehr so etwas wie ein hermetischer Roman oder ein hermetisches Drama. Mutter und Sohn (und der unbekannte R. W.) spielen auf Sieg oder Niederlage mit- und gegeneinander, Liebe, Hass, Eifersucht, Neid.
    Das macht den Sinn solcher Spiele aus, würde ein Soziologe kommentieren (dessen Disziplin eben in der frühen Bundesrepublik ankam, als amerikanischer Import). Die Teilnehmer entwickeln darüber ihre Beziehungen zueinander, wie die Kleingruppenforschung immer wieder gezeigt hat.
    Den Unterschied zwischen Spiel und Wirklichkeit lernt das Kind früh. Freilich erlebt der Knabe die Affekte, die das Spiel mit Vater und Mutter (oder wer immer R. W. ist) als durchaus wirklich; die Gefühle schaffen ein unüberwindliches Wirklichkeitsgefühl.

    Der Sohn war immer ein schlechter Verlierer beim Canasta, beim Doppelkopp, beim Menschärgeredichnicht, bei Mühle oder Dame; war er geschlagen, brach er leicht in Wut oder Tränen aus; was Onkel und Tante, was die Angehörigen darauf zurückführten, dass der Sohn ohne Geschwister,

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