Das Merkbuch
unfreiwillig dort, eingezogen und abkommandiert. Anfangs waren alle schwer begeistert!, ruft Vater, der Blitzkrieg, als sie in null Komma nix vor Moskau standen. Der neue Lebensraum im Osten, das Rittergut in der Ukraine! Tante ist wieder schwer begeistert von Adenauer, begütigt Mutter, dass er in die Höhle des Löwen reist, der alte Mann, nach Moskau, um unsere Jungs heimzuholen. (Wie viel Wodka er dauernd trinken musste bei den Verhandlungen, sinnierte Tante, der alte Mann! Man weiß doch Bescheid über den Iwan und seinen Wodka.) Die wollten doch selber ein Rittergut in der Ukraine, Onkel und Tante, tobt Vater freudig, auf der Krim, das prächtigste Anwesen von Deutsch-Sewastopol, und Onkel macht den Vizegauleiter.
Am 22. September verkündet der Bundeskanzler vor dem Bundestag die Hallstein-Doktrin – Walter Hallstein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, 1930 bis 1941 Rechtsprofessor in Rostock, Mitglied bedeutender Nazigliederungen: Die BRD unterhält diplomatische Beziehungen ausschließlich zu Staaten, die keine diplomatischen Beziehungen zur DDR unterhalten. Ausnahme Sowjetunion – eben war ja der Botschafteraustausch vereinbart worden –, und Vater widmete dieser Asymmetrie spezielle Tiraden: Klar, bei der mächtigen Sowjetunion, deren Satellitenstaat die DDR ist, da machen sie eine Ausnahme, da kuschen sie . . .
Am 23. Oktober lehnt die Bevölkerung des Saarlandes mit klarer Mehrheit das so genannte Saarstatut ab, das ihr politische Selbstständigkeit und den politischen Anschluss an Frankreich verschafft hätte, und Vater, der an diesen Tagen wieder zu Haus war, nahm dankbar die Gelegenheit zu Tiraden gegen den alten Erbfeind wahr – und den öligen Ministerpräsidenten namens Hoffmann, irgendwie so ein Operettenfürst, der seiner Bevölkerung den Anschluss an Frankreich dringend empfohlen hatte und nach der Niederlage gleich zurücktrat, was Vater genoss. Davon konnten die Westdeutschen nicht genug bekommen, Rücktritte von Politikern aus hohen Positionen. Leider waren sie selten.
Von den Kleinrechnungen des Jahres verdient festgehalten zu werden – Kassel ist das Arbeitskapitel überschrieben –, dass Vater am 5. Dezember neben Kaffee DM 20 für Marken ausgibt, die neue Leidenschaft des Sohnes (zugleich denkt Vater gewiss an Vermögensbildung: Man konnte einen speziellen Katalog erwerben, der die mutmaßlichen Preise der Sammlerstücke mitteilte). Am nächsten Tag sind neben Tabak und Zahnbürste Bücher für Ruth vermerkt, 35. Am 17. Dezember verzeichnet Vater neben dem Fahrgeld nach Hause 5.50 für Schokolade, Pfefferkuchen; am 21. Dezember für Weihnachtsgebäck 17.
Am 2. Januar 1956 leiht er sich von Kurt Hübner, den er mit dem Freundschaftsnamen Kui nennt, 100; am 3. Januar kauft er neben Tabak für 4.80 Blumen und Pralinen und für 2.60 Schokolade. Man kommt erneut auf Liebesgedanken.
Im Adressenteil des Notizkalenders findet man Eva Bröll, Oberursel/Taunus, Liebfrauenstr. 22 I. Sowie A. Faller, Frankfurt/Main, die von der Vogelsbergstr. 44 (durchgestrichen) in die Kölnerstr. 14 umgezogen ist. Wiederum Toni Keller in Schwetzingen, Karl-Theodor-Str. 14.
Im Notizenteil des Kalenders findet sich eine Art Wunschliste: Zimmerwaage, Lederbeutel, Vase, Schmuckbehälter, Behälter für Federhalter. – Dort findet sich außerdem so etwas wie eine Liste der erfüllten Wünsche, eine Bilanz der Ausgaben im Jahr 1954, beinhaltend all den Tabak, die Schokolade, den Kaffee, den Schneider Hupfeldt, die Krawatten, Strümpfe, Hemden, die Briefmarken, den Eisschrank – was auf insgesamt 1545 hinausläuft.
Wobei man wiederum im Unklaren darüber bleibt, ob die Zahl Stolz und Selbstgefühl zum Ausdruck bringt oder Existenzangst.
Man müsste das mischen, Stolz, Selbstgefühl und Existenzangst. Was käme dabei heraus? Sex?
Ein rätselhafter Posten in der Bilanz von 1954 lautet 100 Ruth Bodensee. Eine Reise, Ferien, die in Vaters Merkbuch für 1954 natürlich fehlten; Mutter und Sohn unternahmen sie ohne Vater.
Die Reise nach Meersburg! Mit einem fortschrittlich-preiswerten Reiseunternehmen namens Touropa, Liegewagen, Fahrt durch das nächtliche Westdeutschland, die man überschlafen sollte. Dann ein Fremdenzimmer bei einer Hutzelfrau namens Strohecker. Der Sohn kam auf gewisse Freuden.
»Das ungewohnte Gefühl seiner Haut auf dem Laken regte ihn zu einer Entdeckung an«, wird Jahrzehnte später, wenn dies Erfahrungsmaterial poesiefähig geworden ist, ein Dichter schreiben. »Eine magische Welt
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