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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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ihm Druckbuchstaben ausschauen, haben wir ja eben gesehen. Und Vater ist als Schreiber natürlich erst recht auszuschließen.
    Die nächste Seite des Merkbuchs – Donnerstag, 9. Februar, bis Sonnabend, 11. Februar, dazu das Notizenfeld – verwendet Mutter wiederum als freie Seite eines Notizbuchs. Sie enthält Rechnungen, die Initialen zugeordnet sind, R. R. und R. W. und M. R. Die Rechnungen summieren sich auf 3780 (für R. R.), 1060 (für R. W.) und 2600 (für M. R.).
    Canasta! Sie spielten damals gern Karten, und Canasta war ihr Favorit. Und die rätselhafte Seite davor, mit der Geheimschrift, das ist womöglich ebenfalls die Gewinn- und Verlustbilanz eines Spiels, Schiffe versenken oder so etwas . . .
    Bilanzen, möchte man folgern, Mutter verwirft die Vorschriften des Notizkalenders – aber sie verfasst auf seinen Seiten Bilanzen, Vaters zentrales Genre.

    Am 5. Februar – er arbeitet weiterhin in Kassel, prüft die Bücher der KVG – notiert Vater, dass er 30 Ruth f. Unterwäsche gegeben hat. Am 9. Februar bekommt Reinhard 10 – hier variiert die Namensschreibung ebenso wie bei Hupfeld(t) –, ein Geburtstagsgeschenk, wie wir vom Sohn wissen, und 5.30 gehen für Kaffee drauf. Am 11. Februar bekommen Reinhard und Margrit 15, Ruth 30; Schokolade (die vermutlich der Sohn als Mitbringsel erhält) kostet 4.30.
    Der Sohn setzt seine vorschriftsmäßigen Aufzeichnungen fort.

    Im Kino gewesen. Sehr spannend.
    Schule. Arbeit geschrieben. Herrenhaus von Thomas Wolfe gehört, doll.
    Valentinstag. Mutter Kaktus geschenkt. Stempel bekommen.
    Ski gefahren. Sehr müde. Briefmarken.
    Im Kino. Odysseus. Gut.
    Leider wieder Schule. Früh nach Hause gekommen.
    Mutter in der Schule. Das neue Gebäude besichtigt. Flötenstunde.
    Arbeit zurückbekommen. Eine Zwei.
    In Kassel gewesen. 20 000 Meilen unter dem Meer, ganz wunderbar.

    Er geht oft ins Kino, der Knabe. Daher das Kopfweh, hätte 1956 der Kulturkritiker gefolgert: Knaben gehören an die frische Luft, zu Sport und Spiel im Freien, statt ins Kino; gerade Knaben dieses Alters (in der Regel war der Kulturkritiker Pädagoge, und er machte sich 1956 schwere Sorgen um die deutsche Jugend, die deutsche Zukunft).
    20 000 Meilen unter dem Meer, nach dem berühmten Roman von Jules Verne, verzauberte viele Jungs dieser Zeit. James Mason spielte – mit unvergesslichem schwarzen Vollbart und angesilbertem Haupthaar – den romantisch-dämonischen Kapitän Nemo, der mit dem von ihm genial konstruierten Unterseeboot Nautilus und einer eingeschworenen Mannschaft die Weltmeere durchmisst, zukunftsweisende Forschungen anstellt und hin und wieder ein Kriegsschiff versenkt, weil ihm und den seinen staatlicherseits schweres Unrecht zugefügt wurde. Die Hauptperson des Films aber ist das viktorianische Unterseeboot Nautilus selbst, seines Äußeren – eine Art Panzerfisch – wie seines Innern wegen: Die Orgel, auf der Kapitän Nemo im luxuriösen Hausjackett finster zu improvisieren pflegt, während die Nautilus ein Schiff der feindlichen Oberwelt rammt, diese Orgel vergisst kein Kinogeher.
    Versteht sich, dass der Sohn die Nautilus sofort in seine Weltraumflotte aufnahm, weshalb der Kabinenroller an Attraktivität verlor. Überhaupt verlegte sich die Fantasie vom All unter das Meer (wo man jedoch mit dem Kabinenroller ebenfalls viel anfangen konnte).
    Der Film mit James Mason und der Nautilus ging in die Familienlegende ein. Mutter holte den Sohn am Kino ab nach der Kindervorstellung, und der Sohn redete mit solcher Begeisterung von dem Film, dass er Mutter überzeugen konnte, er müsse jetzt sofort in der nächsten Vorstellung den Film noch einmal sehen, und sie müsse ihn begleiten. Mutter gab ohne viel Widerstand nach.
    Eine dritte Hauptperson, den Maat Ned Land, spielt Kirk Douglas; er führt den Untergang von James Mason und der Nautilus herbei. Kirk Douglas aber, das ist Odysseus in dem Film, den der Sohn am 18. Februar anschaute. Niemand, Nemo, nennt sich Odysseus, als ihn der geblendete Riese Polyphem nach seinem Namen fragt . . .
    Das Meer, es geht um das Meer. Odysseus irrt unendliche Zeit über das Meer, bis er endlich nach Ithaka zurückkehrt – und Anthony Quinn und die anderen frechen Bewerber um Penelope erledigt, was den Sohn tief befriedigte. Nemo ist ohne Ziel, die Meerfahrt geht immer weiter – bis die von Ned Land mobilisierten Kriegsschiffe der Außenwelt ihn an seiner Basis, einer fernen, unbekannten Insel mit geheimnisvollen Ressourcen, stellen. Das Meer

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