Das Merkbuch
der Plastikwelt, wie die Kulturkritiker der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren sie beklagen. Mutter beteiligte sich nach Kräften an dieser Expansion, indem sie die einschlägigen Textilien eifrig erwarb.
Bemberg. 1792 gründete der Kaufmann Johann Peter B. in Elberfeld eine Garnfärberei. Seit 1865 expandierte das Familienunternehmen glorios und errichtete Filialen unter anderem in Krefeld und Augsburg; seit 1900 konzentrierte sich die Produktion auf Kunstseide, und internationale Niederlassungen entstanden in Italien, Frankreich, Japan, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Im Dritten Reich erzeugten 4400 Werktätige bis zu 40 Tonnen Fallschirmseide am Tag – das verfluchte deutsche Kapital, der Höllengestank –, und im März 1945 zerstörten alliierte Bomber einen großen Teil der Produktionsanlagen, und Bemberg verlor seine internationalen Filialen. 1946 der Neubeginn mit ungefähr 300 Werktätigen. Ein typisches Unterkapitel aus der Geschichte der Bundesrepublik.
Zu den Büchern der Spinnfaser kehrt Vater erst am 11. Januar zurück, das erste Arbeitskapitel des neuen Jahres ist KVG überschrieben, Kasseler Verkehrsgesellschaft.
Wieder kein Ausläufer des dämonischen Kapitals, sondern eines dieser sozialdemokratischen Kommunalorgane ohne Profitinteresse.
Aber was das Jahr 1956 von den anderen substanziell unterscheidet, das sind die Merkbücher – so heißen sie ausdrücklich im Innern –, die in diesem Jahr auch Mutter und Sohn nach dem Vorbild von Vater führen.
Das Vorbild erkennt man sogleich daran, dass beide Merkbücher – schwarzes Kunstleder, Goldschnitt, weiße Lesebändchen – wiederum Werbegeschenke sind: Der Sohn führt ein Merkbuch der Firma Stromeyer, Kohlenstromeyer, wie sie sich mit Prägedruck auf der Vorderseite präsentiert; bei Mutter heißt sie – Prägedruck in Gold – Brennstoffhandel, und auf der Titelseite deklariert sich als Geber der Schwarzwälder Brennstoffhandel aus Villingen (Schwarzwald), der Düngemittel, Futtermittel, Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel, Torfstreu und Torfmull, Speise- und Viehsalz, Heizöl, Treibstoffe, Öle, Fette für Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft, Treibgas offeriert.
Vater stattet Mutter und Sohn mit den Kalendern aus, hat ihretwegen zwei weitere Exemplare des Werbegeschenks besorgt.
Man verspürt den poetischen Impuls, das Angebot des Schwarzwälder Brennstoffhandels mit Vaters Produktliste zu vermählen, mit Textilreyon, Kordreyon, Perlon – ah, der Kräuselzwirn im Gehirn! – mit Bicotin und Flox. So war sie, die Bundesrepublik jener Jahre, möchte man folgern, Torfstreu und Perlon, Treibgas und Zellwolle, Düngemittel und Kunstseide.
Vater schreiben, Freitag Tante, schreibt Mutter am 1. Januar in ihr Merkbuch (als Vater KVG , Kassel schrieb). Mutter will das Merkbuch anscheinend als Agenda verwenden, zur Alltagsplanung, wie Vater es vergangenes Jahr prägnant mit dem Fälligkeitsdatum der Hupfeldt-Rate und mit Dr. Heckmann bis Donnerstag bei Hommelwerke versuchte – tatsächlich bricht Mutters Planung aber gleich wieder zusammen, und die Datums- ebenso wie die Notizenfelder bleiben bis zum 5. Januar leer.
Tatsächlich ähneln das Merkbuch des Schwarzwälder Brennstoffhandels und das Stromeyer-Merkbuch, das der Sohn benutzt, Vaters Glanzstoff-Merkbuch in Layout und Typographie: Ein feiner Eindruck vorn verrät, dass in beiden Fällen Wilhelm Eilers jr. respektive den Eilers-Werken in Bielefeld die Gesamtherstellung oblag.
Bei W. Eilers jr. respektive den Eilers-Werken in Bielefeld orderten die verschiedenen Firmen diese Notizkalender als Werbegeschenke.
Der Sohn beginnt sein Merkbuch im Weltall, doll gefeiert. Die Merkurianer haben angegriffen, nichts erreicht. In einem Versuch zur Druckschrift.
In einer fiktiven Schrift, und das Merkbuch soll im Dienste einer Erfindung ausgefüllt werden, des interstellaren Reichs, das dem Sohn (Messerschmidt-Kabinenroller als Shuttle zwischen den Raumschiffen und die Stadt unter der Plexiglasglocke) untersteht. Der Sohn versucht das Merkbuch als Roman zu beginnen.
Das kommt daher, dass der Kalender ja wirklich so etwas wie ein Buch imaginiert. Man muss bloß Tag für Tag was reinschreiben. Dann erzeugt der Lauf der Zeit von selbst so etwas wie eine Geschichte. Bei dem Sohn sollte es gleich eine erfundene Geschichte sein, aus dem All.
Nichts liegt Vater ferner.
Erfindungen kennt der Revisor, der die Bücher von Unternehmungen im Hinblick auf ihre
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