Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
Vom Netzwerk:
gebaut.
    Konfirmandenstunde. Schalttafel eingebaut. Fahrrad gefahren. Abends lange aufgeblieben.
    Erdmann krank, 3 Stunden ausgefallen. Früh heimgekommen. Nachmittags wieder nach Melsungen. Flötenstunde.
    Schlagball in Turnstunde gespielt. Erdmann wieder da. Fahrrad gefahren. Bei Tante Heu hochgezogen. Annette gekommen.
    Nach Kassel gefahren. Im Kino gewesen: Alle Herrlichkeit auf Erden. War ganz gut.
    Fahrrad gefahren. 3 Mal baden gewesen. Abends lange aufgeblieben und ein Hörspiel gehört.
    Vom vielen Regen tolle Überschwemmung. Das Talviertel überschwemmt. Im Kino gewesen: Schiff der Verurteilten (James Mason).
    Überschwemmung etwas zurückgegangen. An der Straße nach Nausis gewesen. Immer noch voll.
    Spät aufgestanden. In der Stadt gewesen. Keine Sonne, kein Regen. Im Schwimmbad und Marcel Marceau im Fernsehen.
    Nach Hersfeld gefahren. Abends erstes Mal Theater: Wallenstein, einfach vorzüglich. Leider nicht mit Krauss.
    Heute Othello. Balser besser als Wallenstein. Aufführung wieder in der Stiftsruine.

    Mutter gewinnt keinen Geschmack an diesen Aufzeichnungen. Wallenstein und Othello notiert sie nur noch pflichtschuldig – der Sohn übernimmt es, die Urteile von Mutter aufzuschreiben, einfach vorzüglich war Wallenstein, Balser als Darsteller von Othello übertrifft Balser als Darsteller von Wallenstein – am besten aber wäre Wallenstein mit Krauss besetzt. Mutter delegiert es an den Sohn, diese Gedanken aufzuschreiben. Der Sohn hat ja gar keine eigene Theatererfahrung, die ihm Meinungen ermöglichen würde.
    Ganz hinten in ihr Merkbuch für 1956 hat Mutter ein Porträt des Schauspielers Werner Krauss eingelegt. Ausgeschnitten aus irgendeiner Illustrierten: Er schaut lächelnd über die Schulter in die Kamera, ein großes Gesicht, weißes Haar, schwarzer Anzug – irgendein festlicher Anlass, den man nicht identifiziert.
    Ein frühes Zeugnis von Fandom. Vor den Fans der Filmstars, der Popstars, der Sportstars machten sich die Fans von Schriftstellern, Theaterschauspielern, Musikern bemerkbar. Mutter, kein Zweifel, zählte zu ihnen, vgl. Thomas Mann.
    Werner Krauss war einer der berühmtesten Theater- und Filmschauspieler seiner Zeit, Das Kabinett des Dr. Caligari; 1940 spielte er gleich mehrere eklige Juden in dem antisemitischen Hetzfilm Jud Süß, ein ideologisches Monument des Dritten Reiches, weshalb Krauss 1945 erst einmal Auftrittsverbot erhielt.

    Die Hersfelder Festspiele fanden seit 1951 statt und sollten diese kleine Stadt im Zonenrandgebiet, wie man damals sagte – an der Grenze zur DDR –, aufwerten durch Kultur. Eine Kopie der Salzburger Festspiele, erklärte Mutter herablassend, und so hübsch das Städtchen an der Fulda, so imposant die Ruine der romanischen Klosterkirche ist, wo die Aufführungen, wenn es nicht regnet, stattfinden: An den Ruhm und Reichtum Salzburgs kam Bad Hersfeld natürlich nicht heran . . .
    So sind sie, die Aufsteiger, blicken auf die anderen Aufsteiger herab, verachten sie für ihren Ehrgeiz und ihre Unvollkommenheiten, die aus dem Ehrgeiz hervorgehen . . .

    Aber wer ist Balser? Wer ist Umann, Erdmann, wer ist Arhelger, wer ist Becher, wer ist Goebel, wer ist Hesse? Der implizite Leser der Aufzeichnungen weiß es natürlich, er ist ja ihr Autor. Die Überschwemmung nach den schweren Regenfällen, wie sie sich durch das Tal ergoss, an dessen Hängen unsere kleine Stadt liegt; der Garten, in dem Mutter regelmäßig arbeitete, für dessen Pflanzungen sie die Liste der Blumensamen in das Merkbuch schrieb; das Fahrradfahren im Mittelgebirge, durch die Täler und über die Höhen; das Freibad unserer kleinen Stadt, in das Mutter allein oder zusammen mit dem Sohn schwimmen ging; das Gymnasium in der Kreisstadt Melsungen, wo der Sohn Arbeiten schrieb und sie benotet zurückerhielt, das schulische Ritual; die Fahrten in die nächste große Stadt Kassel, die in Kinobesuchen ihren Höhepunkt fanden: Der Leser, der nicht der Autor ist, entwickelt keine prägnante Anschauung davon – aber er kann sich was vorstellen.
    Arhelger, das war der Vermieter der Fremdenzimmer am Edersee. Sie machen Ferien, Mutter und Sohn, so weit ist es schon gekommen mit der Bundesrepublik; nicht daheim – wie Vater, der sich allenfalls in dem Garten vergnügt, den er irgendwann erwarb, für den der Wüstenrot-Bausparvertrag läuft und wo die Zinnien, die Verbenen, die Tagetes und die Cosmeen blühen –, Mutter und Sohn machen Ferien in einem ausgezeichneten Ferienort.

    Mutter setzt ihre

Weitere Kostenlose Bücher