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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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auf der früher drei Dörfer und zahlreiche Bauernhöfe gestanden hatten«, schreibt ein Historiker. »Bis heute der drittgrößte Staudamm in Deutschland, machten ihn die 200 Millionen Kubikmeter Wasser zur größten europäischen Talsperre seiner Zeit, als eine sechsjährige Bauzeit 1914 beendet war. Der Kaiser und seine Gemahlin, der Fürst und die Fürstin von Waldeck, führende Persönlichkeiten aus der Welt der Wirtschaft, Politik und Kultur, alle hatten die Einladung zur großartigen Einweihung angenommen. Doch man hatte sie auf den 14. August 1914 angesetzt – da ging der Krieg in seine zweite Woche.« 15
    Heftig beschäftigte den Sohn die Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg: Die Royal Air Force bombardierte die Staumauer.
    Die Luftwaffe Seiner britischen Majestät, Georgs VI ., entwickelte Spezialbomben zur Zerstörung von Talsperren, die übers Wasser rollen oder springen mussten, um die Mauer zu treffen und zu zerstören. Systematisch flogen Elitegeschwader unter dem Kommando des Oberstleutnants Guy Gibson Angriffe auf die Talsperren des Deutschen Reichs.

    »Der Versuch, die Sorpetalsperre zu treffen, mißlang den Angreifern glücklicherweise; der Erddamm hielt stand. – Nach dem Verlust von sieben Flugzeugen zog der Oberstleutnant mit den restlichen elf – und drei Bomben! – zum Edersee. Hier störten weder Flak noch Sperrballons oder Nachtjäger den – wegen steiler Berge und enger Talschleifen – gefahrvollen Anflug. Dennoch fiel die erste Bombe Sekunden zu spät. Sie explodierte auf der Mauerkrone.
    Auch die zweite Bombe verfehlte das Ziel. Erst die letzte rollte am 17. Mai 1943, etwa um 1.30 Uhr, springend über den See, versank vor dem Staudamm und brach dem Wasser mit ihrer das Tal erdbebenartig erschütternden Explosion eine Bresche in die Sperrmauer.
    Einhundertsechzig Millionen Kubikmeter des entfesselten Elements – achttausendfünfhundert je Sekunde – fluteten in die Täler von Eder, Fulda und Weser. Idyllische Dörfer versanken, Häuser und Ställe zerbrachen, Vorräte, Vieh, Holz, Ackerboden wurden fortgeschwemmt, Felder meterhoch mit Steinen überschüttet – neunundzwanzig Menschen starben den qualvollen Tod des Ertrinkens.« 16

    In der Fantasie des Sohnes vermischen sich die Dörfer, die der RAF -Angriff unter Wasser setzte, mit denen, die das Aufstauen der Eder überflutet hatte, Asel, Bringhausen, Berich, submarine Siedlungen, Vineta, Atlantis – versteht sich, dass die Nautilus zwischen ihnen immer wieder kreuzte, oder der Kabinenroller, der ja unterwassertauglich war, indem er seinen Aufgaben als Shuttle, ein damals unbekanntes Wort, nachkam.
    Der Edersee, an dem Mutter und Sohn Ferien machten, der Gardasee, von dem Hübners am 26. August so schöne Bilder zeigten – unverkennbar machte Kui, einst der junge Mann von Vater, dem er seinerzeit die tricks of trade beigebracht hatte, schöne Fortschritte in seiner Karriere als Unternehmer und demonstrierte sie seinem ehemaligen Vorgesetzten mittels eines Diaabends (und Erzählungen über Wasserski, Lasagne, Chianti in der Sommernacht). Soziologen nennen das conspicuous consumption. Die Ferien, hier oder dort, werden nicht einfach genossen – der Genuss wird ausgestellt und verglichen, und der kostspieligere, an Genüssen reichere bringt viel mehr Prestige ein. Mutter und Sohn urlauben an einem Stausee in der Nähe – Onkel Kurt mit Frau und Kindern unternehmen eine Reise gen Italien. Von der sie Bilder in einer seinerzeit kostspieligen und anspruchsvollen Technologie vorführen. Indes der Sohn zur Blockflötenstunde ging, lernten Margrit und Reinhard vermutlich Klavier und Geige.
    Heißer Neid, müsste das Merkbuch von Mutter am 26. August melden, wäre dies ein Tagebuch im präzisen Sinn. Hübners bringen ihren Projektor mit und werfen auf ein Laken, das der Sohn notdürftig im Wohnzimmer angepinnt hat, ihre Farbdias vom Gardasee. Dass sie nicht merken, wie uns das kränken muss! Kui wird Millionär, und Vater steuert auf seine kleine Rente zu – aber die Bilder aus Italien waren wirklich schön! Wann wir dorthin kommen? Nie.
    Es braucht halt lange, bis man so etwas Triviales persönlich aufzuschreiben vermag. Bis dahin müssen wir uns mit angstvollen Rechnungen begnügen.

    Ein Schwarzweißfoto, das Mutter fürs Familienalbum schoss, zeigt den Knaben, wie er im Schneidersitz auf einem Steg hockt, der in den See hineinreicht. Bewegtes Wasser – vielleicht der Sturm vom 2. August –, im Hintergrund erkennt man zwei

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