Das Merkbuch
Aufzeichnungen im Merkbuch am 25. Juli, Mittwoch, lustlos fort. Ev. Edersee steht noch in Tinte da, Agenda, Planung. Dann aber beginnt Mutter Rechnungen aufzumachen, Gepäck, das für 3.60 bei der Bahn aufgegeben wird, denn es passt nicht auf die Fahrräder, das Abendessen in Felsberg für 5.20.
Der Sohn hatte am Tag davor geschrieben, leider heute schlechtes Wetter, deshalb nicht an Edersee gefahren. Tante Bücherschrank aufgeräumt. – Am 25. Juli schreibt er: Heute abgefahren. In Felsberg übernachtet. Viele Sachen vergessen, deshalb erst sehr spät abgefahren – mit Fahrrädern, wie man weiß.
Mutter beschäftigt sich am 26. Juli, Donnerstag, weiterhin mit diesen Rechnungen, die zugleich Tagebuch sind. Übernachtungen Felsberg 10. Fritzlar Telegramm 1.50. Erfrischung 1. Mittagessen 5.40. Ammenhäuser 3.50. – Während es an diesem Tag beim Sohn heißt, gutes Wetter, nachmittags angekommen, früh ins Bett weil sehr müde. Gepäck sehr spät gekommen.
Am nächsten Tag hält Mutter fest, dass das Mittagessen 4.25 und Postkarten 40 Pfennige kosten.
Bei diesen Rechnungen kommt man keinen Augenblick auf die Idee, sie seien der Ausdruck von Stolz und Selbstgefühl. Es steht einfach zu wenig Geld zur Verfügung, sagen die Rechnungen unumwunden, und Mutter muss ganz genau über alle Ausgaben Buch führen, um Panik zu vermeiden – Vater schaut ihr über die Schulter, der Revisor, der sich mit Bilanzen genau auskennt. Als könnten die Aufzeichnungen seinen strengen Blick mildern, den sie im Innern auf sich selber richtet.
Der Sohn schreibt dagegen an diesem Tag gutes Wetter. Ganz früh gebadet und Schlauchboot gefahren. Schäfers getroffen. – Mutter am nächsten Tag 8.35, Ammenhäuser 2.80, Eis – .80. – der Sohn hingegen gutes Wetter ganzen Tag, Schlauchboot gefahren. Früh ins Bett und noch gelesen. – Mutter verwendet das Notizenfeld für eine weitere angstvolle Rechnung: Boot 1.50, Essen 5.50, Badekappe 2.60, Schokolade 1.00. – Und der Sohn am nächsten Tag: Sturm, drei Boote gekentert, die Nöck zweimal gekentert. Früh im Bett und noch lange gelesen. – Im Notizkalender von Vater herrscht indessen unverändert das Kapitel Hommelwerke, Mannheim, und alle Datumsfelder sind leer. Zimmermann, Fuchs, Reinhard W. notiert Mutter am 29. Juli, die Empfänger weiterer Postkarten. Vielliebchen gewonnen, schreibt der Sohn.
Vielliebchen!, könnte ein Ethnologe schwärmen. Dass man so etwas damals noch spielte! Ein Scherz- und Liebesritual, das vermutlich aus dem Biedermeier stammt: Zwei zusammengewachsene Kirschen oder Pflaumen – oder ein anderes siamesisches Kleinobst – nimmt das Paar so in den Mund, dass es sich dabei küsst, und beide essen ihre Frucht. Von da an versucht jeder der beiden, in der Konversation die Anrede Vielliebchen unterzubringen – und der jeweils andere hat zu replizieren: Ich denke dran.
Die Nöck ist schon wieder gekentert, Vielliebchen.
Ich denke dran.
Wir haben das schönste Zimmer bei Arhelgers, Vielliebchen.
Ich denke dran.
Das Essen bei Ammenhäuser ist doch recht schmackhaft, Vielliebchen.
Ich denke dran.
Vergisst man die Replik, hat man verloren und muss dem anderen einen Wunsch erfüllen. Ursprünglich, im Biedermeier, so der Ethnologe, ging es vermutlich um weitere Küsse und andere erotische Gefälligkeiten.
Mutter veranstaltet mit dem Sohn ein erotisches Spiel aus dem Biedermeier, das erspart jede weitere Deutung. Vater behält seinen Einfluss im Regiment der Abrechnungen über das Urlaubsgeld – und in Gestalt des Wassers, das ja fix mit ihm assoziiert ist.
Anders als Mutter fährt der Sohn mit den Aufzeichnungen bis zum 10. September fort.
Abgefahren. Sehr tränenreicher Abschied.
Onkel Alfred angekommen. Buch bekommen: Land aus Feuer und Wasser.
Onkel Alfred abgefahren. Ganz früh mit Schulzug gefahren.
Im Kino Krauss gesehen. Donnerwetter.
Schule wieder angefangen. Es ging. Schlorre hat sich ne ahle Männerbürste schneiden lassen.
Papa endlich angekommen!
Hübners da gewesen. Schöne Bilder vom Gardasee gezeigt.
Tante Erika gekommen. Ganz schönes Wetter.
Onkel Kurts Geburtstag. Im Kino gewesen: Die Sennerin von St. Kathrein.
Tantes Geburtstag.
Mit der namenlosen Tante beendet der Sohn am 10. September seine Aufzeichnungen für dieses Jahr.
Der Edersee resultiert aus der Talsperre, deren Bau 1908 begonnen wurde. »Das gestaute Wasser der Edertalsperre erstreckte sich über eine Länge von etwa 27 Kilometern und bedeckte eine Talsohle,
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