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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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handelt, res gestae. Nicht um die Agenda, die Vaters Firma ihm für die Prüfung der Bücher von Döbbelin & Boeder, Flörsheim am Main, aufgetragen hat; die Dr. Fabian oder Dr. Schlögl ihm mittels einer Aktennotiz zukommen ließ und die Vater aus dem Ordner in sein Merkbuch kopiert hätte. Dann stände da Belege 1957 prüfen.
    Seit er in Rente ist, beschäftigt ihn seine alte Firma zwar noch regelmäßig, aber mit Aufträgen, die er als freier Mitarbeiter ausführt. Das ändert die Arbeitsmotivation. Das steigert die Arbeitsmotivation. Vaters Aufzeichnungen wenden sich nicht mehr – wie einst – als (imaginäre) Tätigkeits- und Arbeitsberichte an seine Vorgesetzten, nein, Vater ist als Schreiber ihr impliziter Leser, niemand anderes. Er wird anhand dieser Aufzeichnungen mit seiner Firma abrechnen über die freie Mitarbeit.

    Am 24. September, Samstag, verzeichnet Vater mit Bleistift seine Rente, 634.10. Unterhalb von Flörsheim, begleitet von Aktenzeichen und KK -Verträge, was immer das heißt.

    Der Sohn fährt mit seinem Merkbuch erst am 1. April, Freitag, fort, davor nur leere Seiten. London steht dort als Einzelwort, London. Der Sohn, im nächsten Monat wird er 17, ist nach Großbritannien gereist.

    Ein Schüleraustausch, zwischen dem Gymnasium in Melsungen, das der Sohn seit 1954 besuchte, und der Grammar School in Bedlington, Northumberland.
    Man fuhr mit dem Zug über Köln nach Hoek van Holland in den Niederlanden, schon das eine Ungeheuerlichkeit. Man nahm die Fähre nach Dover, überquerte also das Meer, den Kanal, und betrat England – »dies Kleinod, in die Silbersee gefaßt, / die ihr den Dienst von einer Mauer leistet, / von einem Graben, der das Haus verteidigt, / vor weniger beglückter Länder Neid«, 23 pflegte Mutter zu zitieren. Der Sohn war außer sich.
    Der geblümte Plüsch, mit dem die Sitze in der Eisenbahn von Dover nach London bezogen waren, der Geruch, der das Abteil durchdrang: Er ging von dem Ofen aus, der in einer Ecke stand – ein Ofen in einem Eisenbahnabteil! –, der süß-ekelhafte Geruch verbrannter Braunkohle, der Nase des Sohnes seit den Kindheitstagen in dem Haus am Wald tief vertraut. Das Land Churchills, das Land Königin Elisabeths, deren Krönung der Sohn vor dem Fernseher auf dem Schlossberg unserer kleinen Stadt beigewohnt hatte – jetzt war er wirklich dort, jetzt war England Wirklichkeit, ein Wunder.

    Die Schülergruppe verbrachte die Nacht in einer Art Jugendherberge; am nächsten Tag ging es mit der Eisenbahn – das neueste Modell, kein Kohleofen mehr im Abteil, keine Plüschsitze – durch ganz England hinauf nach Newcastle-upon-Tyne.
    Ankommen schreibt der Sohn mit seiner krakeligen Kurrentschrift am nächsten Tag in den Notizkalender von Baur & Horn, erst einiges Entsetzen, dann . . .

    Ashington hieß diesmal unsere kleine Stadt, eine ärmliche Bergarbeitersiedlung, keine Ähnlichkeit mit Arolsen oder Flörsheim oder Grimmburg. Reihenhäuser aus gelb-schmutzigem Klinker säumten so gleichförmig die Straßen, dass man sie nur mittels der Namen auseinanderhalten konnte. Chestnut Street hieß die, wo Walter Purdy mit Ehefrau Molly und Sohn Walter jr. eines der Reihenhäuser bewohnte, drinnen und draußen der durchdringende Braunkohlengeruch. Der Sohn war mitten in die englische Arbeiterklasse hineingeraten.
    Eine Arbeiterklasse, könnte ein Soziologe kommentieren, wie sie der westdeutschen nur wenig glich.

    »Die Tradition der Freundlichkeit scheint mir ihre Stärke aus der allgegenwärtigen Erfahrung des engen, gedrängten, innig vertrauten Lebens zu gewinnen, dass wir alle in derselben Lage uns befinden. Du musst dich Menschen nahe fühlen, mit denen du den Waschraum und die Toilette auf dem Innenhof teilst. ›Darling‹, das immer noch die weitestverbreitete Anrede ist, und nicht nur gegenüber Angehörigen der eigenen Klasse, von Straßenbahn- und Busschaffnern und Ladenbesitzern, wird zwar automatisch gebraucht, aber bedeutet immer noch etwas. Jemanden einen ›guten Kumpel‹ oder ›echt gemütlich‹ zu nennen bedeutet ein großes Kompliment: Ein Club kann dafür gelobt werden, dass er ›wirklich gemütlich‹ ist; die wichtigste Empfehlung für eine Unterkunft oder eine ›Bude‹ an der See ist, dass sie ›gemütlich‹ sei, und das ist wichtiger als irgendeine Exklusivität. Eine Kirche wird nach denselben Maßstäben beurteilt. ›Unsere Elsie hat in All Saints geheiratet‹, erzählt man von der Kirche, die man unter mehreren in der

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