Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Sprachexperte.Mit dem Krieg erschienen Unterscheidungswörterbücher. Die Serben, die mehrheitlich zur lateinischen Schrift übergegangen waren, kehrten zur kyrillischen zurück. Die Kroaten in ihrem Kroatisierungswahn führten plumpe, aus dem Russischen stammende Konstruktionen ein und einige noch plumpere Wörter, die während des Zweiten Weltkriegs gebräuchlich waren. Es war eine Sprachscheidung voller Lärm und Getöse. Die Sprache war Waffe. Die Sprache verriet, markierte, trennte und verband. Wenn es ums Brot ging, bestanden die Kroaten auf ihrem
kruh
, die Serben auf ihrem
hleb
und die Bosnier auf ihrem
hljeb
. Nur
smrt
, das Wort für
Tod
, lautete in allen drei Sprachen gleich.
All das bedeutete nicht, dass die Sprache vor der Scheidung – dieses »Kroatoserbische« oder »Serbokroatische« – eine bessere und akzeptablere Norm war, die im Krieg brutal vernichtet wurde. Auch jene ehemalige Sprache hatte ihre politische Funktion, auch hinter ihr stand eine Armee, sie wurde manipuliert und war von der »jugoslawischen« ideologischen Neusprache infiziert. Doch die Geschichte der Zusammenführung und Harmonisierung der Varianten war nicht nur viel länger, sondern auch durchdachter als die kurze Geschichte der Scheidung. So wie die Geschichte des Baus von Brücken und Straßen viel länger und durchdachter war als die kurze Geschichte ihrer Zerstörung.
Boban erzählte uns, dass er häufig denselben Traum habe: Er ist in Zagreb und findet die Straße nicht, die er sucht, hat aber Angst, die Passanten zu fragen, weil sie entdecken könnten, dass er aus Belgrad kommt.
»Und was, wenn sie es entdecken?«, fragte ich.
»Sie wüssten gleich, dass ich Serbe bin. Sie würden mir ins Gesicht spucken und mich sonst wohin schicken.«
»Und dann?«
»Dann würde ich die Straße nicht finden …«
»Wen suchen Sie denn im Traum?«
»Meine ehemalige Freundin Maja.«
Die Klasse kicherte.
»Und wo wohnte Ihre Maja?«
»In einer rechten Seitenstraße von der Moše-Pijade-Straße …«
»Die heißt nicht mehr so«, sagte ich.
»Sondern?«
»Medveščak …«
»Danke«, sagte Boban ganz ernst, als brauche er die Information noch heute Nacht.
»Hieß Majas Straße vielleicht Novakova?«, fragte ich.
»Genau! Novakova!«, sagte er, und ein Lächeln der Erleichterung ging über sein Gesicht.
»Warum träumst du nicht, wie du nach Bosnien kommst, dann könnten dich unsere Kumpel ein bisschen in die Mangel nehmen, bis dir der Schweiß ausbricht …«, sagte Selim.
Alle verstummten. Selim hatte eine Mine gelegt.
»Solche Kommentare behalten Sie künftig für sich, Selim! Diese Klasse ist kein Übungsplatz zur Verlängerung des Krieges!«, sagte ich.
Selim ging Bobans serbisch-ekavische Aussprache offensichtlich auf die Nerven. Wenn Boban sprach, verdrehte Selim die Augen, schnaufte, räusperte sich. Wenn er selbst sprach, redete er vermutlich »bosnischer« als sonst.
Bei Nevena machte sich eine sprachliche Schizophrenie bemerkbar. Sie stotterte, vermischte Dialekte, verwechselte Akzente. Mal sprach sie auf südserbische Art, mal imitierte sie die Zagreber Aussprache, dann dehnte sie die Vokale wie dieBosnier oder hob die Stimme an falschen Stellen wie ein autistisches Kind. Später erzählte sie mir, dass sich ihr serbischer Vater und ihre kroatische Mutter heftig gestritten und sich kurz vor dem Krieg getrennt hatten. Jeden zog es zu seiner ethnischen »Herde«. Nevena kam zu ihrer Großmutter nach Bosnien und von dort als Flüchtling nach Amsterdam. »Am wohlsten fühle ich mich im Holländischen«, sagte sie, als ginge es um einen Schlafsack, nicht um eine Sprache.
Uroš zermahlte die Wörter so, dass wir ihn kaum verstanden. Er gebrauchte auch ungewöhnlich viele Diminutive, als wollte er damit seine Umgebung günstig stimmen wie ein Lakai aus einem russischen realistischen Roman. Er schien zu fürchten, dass ihm sein Gesprächspartner eine Ohrfeige versetzte, und so dienten ihm die Diminutive als Schutzschild. Die anderen in der Klasse lachten darüber ebenso wie über die vielen Diminutive in der holländischen Umgangssprache. Uroš mühte sich so sehr beim Sprechen, dass ich ihn lieber in Ruhe ließ.
Igor sprach fließend Holländisch. Für ihn bedeutete es Freiheit, die Muttersprache empfand er als Zwang.
»Wenn ich
unsere
Sprache spreche, komme ich mir vor wie eine Figur in einem Provinzdrama, if you know what I mean«, sagte er.
Darum pfefferte er das
Unsrige
mit Anglizismen. So klang es ihm
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