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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
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ohne Schmerz und als Mittel, die jüngste Vergangenheit zu verdrängen.
    Wir hörten Meliha atemlos zu. Die anderen waren nicht bereit, sich zu öffnen. Einige trugen schwer an ihrer Angst, einige an ihrer Scham. Die einen fühlten Schuld, weil sie den Krieg nicht erlebt hatten, die anderen Entsetzen, weil sie ihn erlebt hatten.

    Es zeigte sich, dass das ganze nationalistische Geschrei um die »nationale Substanz« der Sprache eine Lüge und zugleich die Wahrheit war. Es zeigte sich, dass meine Schüler sich besser in Sprachen ausdrücken konnten, die nicht ihre waren, im Englischen oder Holländischen, obwohl sie beide nur halb beherrschten. Die Muttersprache, diese »Sprache meines Volkes« – die laut dem ekstatischen Vers eines kroatischen Dichters »summt, klirrt, tönt, rauscht, donnert, dröhnt, tost« –, sahen wir plötzlich aus einer ganz anderen Perspektive. Von hier aus klang diese »Substanz« blutleer, schlaff, wie ein Stottern, Fluchen, Verwünschen oder wie eine farblose Floskel.
    »Scheißt auf die Sprache, Leute! Unterhalten wir uns lieber!«, rief Meliha.
    Und so begannen wir.

7.
    In der slawistischen Abteilung fühlte ich mich wie ein blinder Passagier. Ein paar Mal ging ich bei Cees Draaisma vorbei, dem Chef und meinem »Gastgeber«, und schlug ihm vor, wir sollten uns einmal treffen.
    »Gewiss, gewiss …«, antwortete er, »nur habe ich momentan keine Zeit. Bis dahin können Sie sich in allen praktischen Fragen an unsere Sekretärin Dunja wenden.«
    Dunja hieß eigentlich Anneke und war eine mit einem Russen verheiratete Holländerin. Sie erinnerte an eine große, träge Seekuh. Umgeben von staubigen Büropflanzen, saß sie in ihrem Zimmer wie in einem Aquarium, von wo sie dem Besucher bisweilen einen gleichgültigen grauen Blick zuwarf. Nichts konnte sie in Bewegung setzen, jede meiner Fragen beantwortete sie unwillig mit »ja« oder »nein«, wenn sie sich nicht ganz taub stellte.
    »Ich müsste mit Ihnen über den Lehrplan sprechen«, mahnte ich Draaisma mehrmals.
    »Slavs are natural born teachers!«, entgegnete er im Ton eines Sporttrainers. Ich wusste nicht, ob seine Bemerkung ironisch oder als Lob gemeint war.
    »Ines lässt Sie ganz, ganz herzlich grüßen. Wenn das Chaos um den Semesterbeginn vorüber ist, müssen Sie an einem Abend zu uns kommen. Okay?«
    Draaisma bestätigte nur, was ich telefonisch schon von Ines gehört hatte (
Auf jeden Fall musst du zu uns kommen, wenn sich all das ein bisschen gelegt hat. Du hast keine Ahnung, wie viel Arbeit Kinder machen. Ich schaffe es nicht mal zum Friseur, geschweige denn was anderes. Du hast dich zurechtgefunden, nicht wahr? Bis du die Museen der Stadt durch hast, ist bei mir klar Schiff, und du kommst zu uns
).
    Die Slawistik war im fünften Stock. Ein langer dunkler Flur mit etwa fünfzehn geschlossenen Türen. Manchmal sah ich einen Kollegen, der in sein Zimmer schlüpfte, ohne mich zu bemerken. Die Tür der Sekretärin war immer geschlossen. Oft verkündete ein Zettel, dass sie abwesend war. Das Büro von Draaisma betrat ich nicht mehr. Das einzige lebende Wesen, das ich regelmäßig zu Gesicht bekam, war die füllige Russischlektorin. Sie saß am Tisch in ihrem Zimmer, dessen Tür sie halb offen stehen ließ, mahlte mit dem kleinen Mund, als kaute sie ein unsichtbares Sandwich, und las.
    »
Sdrawstwuitje
«, sagte sie sanft, wenn sie meinen Blick auffing.

    Nur einmal klopfte ein Kollege bei mir an.
    »Darf ich hereinkommen?«, fragte er.
    »Natürlich«, sagte ich.
    »Sie sind unsere neue Kollegin?«
    »Es scheint so«, sagte ich.
    Der Mann reichte mir die Hand.
    »Sehr angenehm. Ich bin Wim. Wim Hoeks. Ich unterrichte tschechische Sprache und Literatur. Das letzte Zimmer links …«
    Er machte einen sympathischen Eindruck.
    »Seltsam, dass Cees Sie den Kollegen nicht vorgestellt hat.«
    »Ich bin nur zwei Semester hier. Wahrscheinlich deshalb.«
    »Trotzdem, es wäre korrekt gewesen«, sagte er.
    »So sind wohl die holländischen akademischen Gepflogenheiten«, entgegnete ich achselzuckend.
    »Wir Holländer brauchen für alles viel Zeit. Sie müssten mehrere Jahre hier leben, um von jemandem nach Hause eingeladen zu werden. Das heilige Privatleben ist eine Ausrede für alles, also auch für diese Unhöflichkeit Ihnen gegenüber. Immer nach der Devise: Nicht, dass wir nicht möchten, wir wollen Sie nur nicht stören.«
    »Meinen Sie?«
    »Willkommen im scheinheiligsten Land der Welt!«, sagte er. »Wie haben Sie sich

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