Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Stern. Ich glaube, ich habe sie zum ersten Mal bei den Polen gesehen, die mit billiger Nivea-Creme, Geschirrtüchern, Zeltausrüstung, Luftmatratzen und Ähnlichem auf die jugoslawischen Flohmärkte kamen.
Wenn man die Polen fragte, behaupteten sie, die Taschen zuerst bei den Tschechen gesehen zu haben, die Tschechen sagten, nein, die kommen von den Ungarn, die Ungarn schrieben sie den Rumänen zu, und die erklärten, das sind Zigeunertaschen. Die Plastiktasche mit den rot-weiß-blauen Streifen reist durch Ost- und Mitteleuropa,vielleicht noch weiter, nach Russland, nach Indien, nach China, nach Amerika, in die ganze Welt. Diese Plastiktasche ist das Gepäck der Armen: der kleinen Diebe und Schmuggler, der Leute von den Flohmärkten, chemischen Reinigungen und Wäschereien und billigen Flickschneidereien, das Gepäck der Emigranten, Flüchtlinge und Obdachlosen. In diesen Taschen reisten Jeans, T-Shirts und Kaffee aus Triest nach Kroatien, Bosnien, Serbien, Bulgarien, Rumänien … Aus Istanbul gingen in diesen Taschen Lederjacken und Handschuhe auf die Reise … Vom chinesischen Flohmarkt in Budapest reist in diesen Taschen Ware in alle Himmelsrichtungen: nach Mazedonien, Albanien, Bosnien, Serbien. Die rot-weiß-blau gestreifte Tasche ist ein Nomade, ein Obdachloser, ein Flüchtling, ein Meister im Überleben; sie passiert Grenzen ohne Pass und benutzt die billigsten Verkehrsmittel ohne Fahrkarte.
Hier in Amsterdam habe ich in einem türkischen Laden so eine Tasche gefunden und für zwei Gulden gekauft. Ich habe sie ordentlich zusammengefaltet, und ich bewahre sie auf, wie meine Mutter die kleinen weißen Plastiktüten »für alle Fälle« aufbewahrte. Ich weiß, dass ich durch den Kauf der Tasche einen symbolischen Akt der Selbstinitiation vollführt und mich dem volkreichsten Stamm der Welt angeschlossen habe, dessen Fahne, Wappen und Siegel die rot-weiß-blau gestreifte Tasche ist. Ich frage mich nur, wer den Stern entfernt hat.
Wir begannen unser Spiel mit der von Ana beschriebenen symbolischen Tasche.
»Die werden wir ordentlich mit Kordel verschnüren, damit uns nichts herausfällt. Wie das die
Unsrigen
machen«, sagte Meliha.
»Ich hab mich für die
Unsrigen
immer geschämt, im Ernst. Wenn ich nur an die Koffer denke, die auf den Gepäckbändern der Flughäfen auseinander fielen!«, sagte Darko.
»Mir war das auch peinlich. Mit welchen Hinterwäldlern musst du bloß reisen, dachte ich immer. Aber jetzt find ich das super«, sagte Igor.
»Wieso?«, fragte ich.
»Wissen Sie, wer heute mit dem teuersten Gepäck reist?«
»Madonna?«
»Nein, die Russen. Top-Nutten und Top-Kriminelle. Darum ist mir das Gipsy-Design lieber: die Plastiktasche, verschnürt wie ein Bergschuh, und dazu ein Goldzahn! Das mit dem Stern ist klasse, Ana. Wir sind alle Proletarier. Nur dass Papa Marx tot ist …«, sagte Igor.
»… und sich im Grab umdreht«, ergänzte Meliha.
Mit einem gewissen Vorbehalt hatte ich meinen Schülern das Projekt einer Katalogisierung des ex-jugoslawischen Alltags vorgeschlagen. Ana war die schnellste gewesen mit ihrer Beschreibung der »Zigeunertasche«. Ich schlug vor, dass wir in diese fiktive Tasche unsere künftigen »jugonostalgischen« Exponate packen sollten.
»Was für Exponate?«, fragten sie.
»Mentale. Alles, woran Sie sich erinnern, alles, was Ihnen wichtig erscheint. Unser Land ist untergegangen, und wir sollten etwas bewahren, bevor alles in Vergessenheit gerät.«
»Ich erinnere mich an die Sportparaden zu Titos Geburtstag, die wir jedes Jahr im Fernsehen verfolgt haben«, sagte Boban.
»Aber, meine Seel, daran erinnern sich doch alle!«, sagte Meliha. »Hast du nichts Eigenes?«
»Ich erinnere mich an mein erstes Fahrrad. Geht das?«, fragte Mario.
»Gebucht!«
»Die Männer fahren gleich auf diese phallischen Symbole ab! … Wie wäre es mit Burek und Baklava?«, fragte Meliha im Scherz.
»Geht. Burek, Baklava und Mohnnudeln …«, sagte ich.
Bei diesem Refrain des bekannten Songs von Balašević lebten alle auf.
»Dann geht also alles?«, fragte Nevena.
»Alles, was uns Spaß macht«, sagte ich.
»Oder wehtut?«, fragte Selim.
»Auch was uns wehtut.«
»Geht Omarska?«
In der Klasse wurde es still. Ich bekam eine Gänsehaut.
»Wollen Sie, dass wir darüber sprechen, Selim?«
»Da gibt es nichts zu sprechen! Mein einziges mentales Exponat ist Omarska. Der Ort, wo die Tschetniks meinen Vater abgeschlachtet haben«, sagte er.
Selim hatte mir wieder eine Mine
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