Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
gelegt. Etwas Ähnliches hatte ich erwartet, ich hatte ohnehin ständig das Gefühl, über ein Minenfeld zu gehen. Ich wusste sehr gut, dass jeder von uns seine Kriegserfahrung hatte und dass Verluste, wie der von Selim, unermesslich sind. Selim und Meliha hatten den Krieg mit voller Wucht am eigenen Leib erlebt. Uroš und Nevena lehnten es ab, darüber zu sprechen, obwohl auch sie aus Bosnien kamen. Mario, Boban und Igor waren vor der Mobilisierung geflohen und hatten sich, so schien es zumindest, nicht mit dem nationalistischen Wahn infizieren lassen. Johanneke hatte die Dinge von hier aus beobachtet. Ana, die vor dem Krieg einen Holländer geheiratet hatte und mit ihm nach Amsterdam gekommen war, hatte die kroatischen, serbischen und niederländischen Medien verfolgt und war gelegentlich nach Belgrad, aber auch nach Zagreb gefahren, wo Verwandte vonihr lebten. Verglichen mit den Kriegserfahrungen der Schüler waren die meinen unbedeutend.
Ich wusste, dass ich einen
meeting point
für uns finden musste. Denn meine Schüler unterschieden sich nicht nur durch ihre Kriegserlebnisse, sondern auch durch ihre Interessen. Meliha hatte in Sarajevo einen Abschluss in Jugoslawistik gemacht. Uroš, der von einer bosnischen Provinz-Oberschule kam, stand noch ganz am Anfang. Mario hatte das Studium der Soziologie an der Zagreber Universität abgebrochen. Ana hatte in Belgrad Anglistik angefangen, aber gleich wieder aufgegeben. Nevena hatte in Sarajevo zwei Jahre Vorlesungen in Ökonomie gehört. Ante hatte die Pädagogische Schule in Osijek absolviert. Boban hatte es bis zum zweiten Jahr in Jura geschafft. Darko hatte die Hotelfachschule in Opatija abgeschlossen. Selim hatte sich gerade in Sarajevo an der Mathematischen Fakultät eingeschrieben, als der Krieg ausbrach … Igor wollte sich nicht festlegen: Mal sprach er von einem Studium der Psychologie, dann wieder erzählte er, er habe an der Zagreber Theater- und Filmakademie zwei Jahre Vorlesungen in Bühnenregie gehört. Ich fragte nicht weiter nach; das war jetzt nicht so wichtig.
Ich musste einen gemeinsamen Punkt finden. Ich spürte ihre innere Zerrissenheit, ihre Wut, ihren stummen Protest. Wir alle waren auf irgendeine Weise beraubt worden. Die Liste der Dinge, die man uns genommen hatte, war lang und erschreckend. Man hatte uns das Land genommen, in dem wir geboren waren, und das Recht auf ein normales Leben. Man hatte uns die Sprache genommen. Wir kannten Zustände der Demütigung, der Angst und der Hilflosigkeit. Am eigenen Leib hatten wir gespürt, was es heißt, auf eine Nummer, eine Blutgruppe, eine Herde reduziert zu werden. Einige hatten wie Selim dienächsten Angehörigen verloren, ihr Unglück wog am schwersten. Jetzt waren wir alle eine Art Rekonvaleszenten.
Ich musste ein Gebiet finden, das uns allen gleichermaßen gehörte und am wenigsten wehtat. Das konnte nur unsere gemeinsame Vergangenheit sein, dachte ich. Denn man hatte uns auch das Recht auf Erinnerung genommen. Mit dem Verschwinden des Landes musste auch die Erinnerung an das Leben dort verschwinden. Den neuen Machthabern genügte nicht die bloße Macht: in den neuen Staaten hatten Zombies zu leben, Menschen ohne Gedächtnis. Die jugoslawische Vergangenheit wurde öffentlich geschmäht, die Menschen wurden aufgefordert, sich von ihrem früheren Leben loszusagen und es zu vergessen. Filme, Bücher, Popmusik, Witze, Fernsehen, Erzeugnisse, Zeitungen, Nachrichten, Sprache, Menschen – alles musste aus der Erinnerung verbannt werden. Und vieles endete auf dem Müll: Bücher, Filme, Fotos, Unterrichtsmaterial, Dokumente, Denkmäler … »Jugonostalgie«, die Erinnerung an das Leben im ehemaligen Land, wurde zum Synonym für politische Subversion.
Ich war überzeugt, der Zerfall des Landes, der Krieg, die Unterdrückung der Erinnerung, der »Phantomschmerz«, die allgemeine schizophrene Situation und dann das Flüchtlingsdasein waren die Ursache für die emotionalen und sprachlichen Probleme meiner Studenten. Wir alle befanden uns in einem Chaos, wussten nicht mehr, wer und was wir waren oder sein wollten. Meine Studenten sträubten sich dagegen, zu den »Jugonostalgikern« und »Dinosauriern« gezählt zu werden, aber auch die neu abgepackte Retro-Zukunft der neuen Staaten lag ihnen nicht. Hier in Holland fühlten sie sich gekennzeichnet als »Ausländer«, »Flüchtlinge« oder »politische Asylanten«, als »Balkanesen«, »Primitivlinge«, »Kinder des Postkommunismus«.Das Land, aus dem wir
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