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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
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zu schauen. Denn das Einzige, was ich hätte sehen können, wäre die riesige Pupille im Riesenauge eines Kindes gewesen.
    Dann wechselte ich die Perspektive, und Amsterdam war wieder »eine der schönsten Städte der Welt«, eine »Wüstenrose«. Ich stellte mir vor, wie die Wüstenwinde nach dem gleichgültigen Wüstensand schnappten, ihn mit den Zähnen zermahlten, mit ihren heißen Zungen polierten und schließlich die steinerne Blume ausspien. An Regentagen, wenn sich der Himmel bis auf die Dächer senkte, hatte die steinerne Rose eine schmutzige Leichenfarbe. Aber wenn sich der Himmel hob, stand die Rose im vollen Licht und erstrahlte in einem Glanz, der mir den Atem nahm.
    Meistens passte ich meinen Pulsschlag dem der Stadt an und lebte einfach. Ich kaufte Fisch, Obst, Gemüse auf dem Markt, probierte Käsesorten. Ich ging ins Kino, saß in irgendeinem Café und beobachtete die Passanten. Ich besuchte Ausstellungen und Museen. Das Leben schien ungezwungen, »normal«.Ich wohnte im Herzen Amsterdams, das, wie mir manchmal schien, nicht mit Blut gefüllt war, sondern mit Zuckerwatte. Vielleicht war mein Blick entstellt und mein Herz zerbrochen? Vielleicht war der Instinkt des Überlebens der Magnet, der mein gesprungenes Herz zusammen und mich in der Überzeugung hielt, dass alles »normal« war?

11.
    Wir kleinen Pioniere
sind ein richtiges Heer.
    Wir sprießen wie Grashalme
täglich mehr und mehr.

    Obwohl ich dachte, wir hätten Zeit im Überfluss, war das erste Semester im Handumdrehen vorbei. Sein Ende fiel auf meinen Geburtstag, also schlug ich den Studenten vor, beides irgendwo zu feiern. In der Tasche hatte ich den Flugschein nach Zagreb, wo ich eine Woche bleiben wollte, um dann zurückzukommen und das zweite Semester vorzubereiten.
    Die Jungs entschieden sich für einen alten holländischen Pub in der Nähe des Hauptbahnhofs. Einer von ihnen kannte den Wirt. Das Lokal war halb leer. An der Theke saßen drei oder vier Stammgäste, Alkoholiker aus der Nachbarschaft.
    »Wir sind allein. Der Pub gehört uns«, sagte Darko.
    Meliha kam mit einer Schachtel voll echter bosnischer Dattelplätzchen, die ihre Mutter gebacken hatte. Igor, Nevena und Selim schenkten mir Sachen, die sie aus dem »Ministerium« mitgenommen hatten: Igor zwei Paar Handschellen, versteckt in einem Strauß gelber Rosen, Selim ein ledernes Stachelhalsband und Nevena eine in lila Papier gewickelte und mit einem roten Bändchen geschmückte Peitsche.
    »Alles Gute zum Geburtstag,
drugarica
Makarenko. Jetzt haben Sie auch die nötigen Requisiten«, sagte Igor und küsste mir die Hand. Ich fragte mich, unter welcher Staubschicht er Makarenko ausgegraben hatte, an dessen
Pädagogisches Poem
sich nicht einmal die Russen mehr erinnerten.
    Johanneke hatte in einem bosnischen Laden in Rotterdam mazedonischen Ajvar, Waffelschnitten von »Jadro« und ein Päckchen »Minas«-Kaffee gekauft und alles in eine Schachtel gepackt, auf deren einer Seite »Jugonostalgische erste Hilfe« und auf der anderen »Yugo-nostalgic Help Kit« stand. Ante brachte ein Gläschen mit Rosmarin. Ana schenkte mir eine Fotokopie der ersten jugoslawischen Nachkriegsfibel von 1948. Ich fragte mich, welche Mühe es gekostet hatte, die Fotokopie nach Amsterdam zu schaffen.
    Es kamen Mario, Boban, Darko und Uroš. Kurz zeigte sich sogar Amra, die junge Frau mit Baby, die meinen Unterricht fast nie besucht hatte. Einen Blick in den Pub warf auch Zole, der wegen der Aufenthaltserlaubnis angegeben hatte, bei einem holländischen schwulen Partner zu wohnen. Selbst Laki kam, den ich total vergessen hatte.
    Ante hatte sein Akkordeon dabei. Die Biergläser leerten und füllten sich gefährlich schnell. Ante beherrschte wirklich alles: alte Partisanenlieder, Romanzen, bosnische Liebeslieder, serbische Reigen, Lieder aus Medjimurje, dalmatinische, mazedonische, ungarische Volkslieder, Zigeunerlieder, slowenische Polkas … Wir ließen nichts aus. Jedem fiel ein anderes Lied ein. Vers reihte sich an Vers, Refrain an Refrain. Wir stürmten durch die Geschichte der jugoslawischen Unterhaltungsmusik und ihrer jährlichen Festivals in Opatija. Sie kannten alles. Auch Djordje Balašević, dessen Songs alle Ex-Jugoslawen in bitter-süße Schwermut versetzten, und die »Klassiker« des jugoslawischen Rock kamen an die Reihe. In den Pausen versuchtenwir, uns an die Worte des Pioniergelöbnisses und der jugoslawischen Hymne zu erinnern, die meine Schüler in schnellem Rap vortrugen. Wir zählten

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