Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
die Sänger der neu komponierten Musik und die Stars des Turbo-Folk auf. Wir durcheilten die Geschichte des jugoslawischen Fernsehens und seiner Kindersendungen. Wir erinnerten uns an die ersten amerikanischen Serien »Payton Place«, »Dallas« und »Denver-Clan« und schließlich an das tschechische »Krankenhaus am Rande der Stadt«. Wir erzählten alte Witze über Montenegriner, Dalmatiner, Mazedonier, Slowenen, Bosnier und ahmten die Redeweise der Kosovo-Albaner nach. Es war ein richtiges Feuerwerk an Zitaten aus dem jugoslawischen Alltag, eins reihte sich ans andere, eins übertrumpfte das andere. In einem Augenblick glaubte ich, unsere rot-weiß-blau gestreifte Plastiktasche würde mitsamt dem frisch gelegten Fundament unseres imaginären jugoslawischen Alltags platzen.
Auch der Krieg wurde nicht ausgespart.
»Entschuldigen Sie,
drugarica
, aber ich scheiß auf eine Sprache, in der es heißt ›mein Kind schläft wie abgeschlachtet‹. In allen anderen Sprachen schlafen die Kinder ›wie Engelchen‹ …«
»Darum ist auch der Krieg ausgebrochen …«
»Wie meinen Sie das?«
»Einer, dessen Kind wie abgeschlachtet schläft, greift schnell zum Messer!«
Meine Schüler wussten nicht, dass ich gerade diesen Satz häufig von jugoslawischen Emigranten gehört hatte. Viele trugen ihn bei sich, und mit der Zeit wurde er zum Hauptgrund für die Flucht. (
Warum haben Sie das Land verlassen? Weil man in meinem Volk von einem Kind, das anderswo ›wie ein Engelchen‹ schläft, sagt, dass es ›schläft wie abgeschlachtet‹.
)
In dieser Sekunde taten sie mir Leid, ich empfand Mitgefühl, ich liebte sie alle, alles an ihnen gefiel mir: wie sie aussahen,was sie sagten und wie sie es sagten. Sie waren
meine
Schüler. Ich ließ meinen Blick über ihre Gesichter gleiten, entwickelte in Gedanken ein Polaroidfoto, merkte mir Details: Selims ungewöhnlich feine, lange Finger und seine unruhigen, wie Vögel umherflatternden Hände; Melihas Gesicht mit dem breiten Lächeln; die tiefe Falte zwischen Anas Augenbrauen; Uroš’ unruhige, halb gesenkte Lider mit weißlichen Wimpern; die Art, wie Nevena langsam den Kopf senkte und den Blick hob, und das wie einen Tick ständig wiederholte … Nur ich war nicht auf diesem imaginären Polaroidfoto. Dort, wo ich am Tisch sitzen sollte, zeichneten sich leere Konturen ab.
Die Gruppentemperatur stieg hoch wie Bierschaum. Es schien, als hätten wir den Verstand verloren und wüssten nicht mehr, wo wir uns befanden: auf einem Pioniertreffen, in einem Scoutlager oder auf einem Schulausflug … Und dann – lag es am vielen Bier, an der Müdigkeit oder der allgemeinen Rührung – begann Meliha zu weinen. Wir alle zerdrückten eine Träne, uns allen schnürte es die Kehle zu. Mich streifte der Gedanke, dass das Glas geleert war und die süße kollektive Rührung in der nächsten Sekunde in etwas anderes umschlagen könnte.
Und so geschah es auch. Uroš, der offenbar mehr getrunken hatte als die anderen, stand auf und rief:
»Ruhe! Ich will etwas sagen!«
Er war blass, schwankte und rang nach Luft.
Es ist geschehen und wahr,
daß an einem Tag in einem Land
auf dem bergigen Balkan
eine Schülerschar
den Märtyrertod fand.
Alle geboren im selben Jahr,
in der Schule die gleiche Freude und Plage,
zu den gleichen Festlichkeiten geführt,
zugleich gegen Krankheiten immunisiert,
und alle starben
am selben Tage …
Uroš rezitierte. Ante spielte dazu leise die Melodie eines Partisanenlieds.
Noch fünfzig Minuten,
bevor sie starben,
saßen die Schüler
in ihren Bänken,
mußten Aufgaben lösen, denken:
Wie weit kommt ein Wanderer mit Begleiter,
wenn er in fünf Stunden … er soll …
und so weiter.
Es war eine peinliche Szene. Das Poem
Blutige Mär
von Desanka Maksimović kannten in Ex-Jugoslawien ganze Schülergenerationen auswendig. Der Text stand in allen Lehrbüchern, in allen Anthologien, wurde unzählige Male rezitiert bei feierlichen Anlässen, auf Schulveranstaltungen und -feiern. Er schilderte eine wahre Begebenheit. Die Deutschen hatten 1941 in Kragujevac eine ganze Schulklasse erschossen. Das Gedicht hatte sich jedoch vom übermäßigen Gebrauch abgenutzt und war allmählich zu seiner eigenen Parodie geworden. Man konnte es einfach nicht mehr hören. Während Uroš die Verse stammelte, erinnerte ich mich an Fernsehaufnahmen der neunzigjährigen Dichterin mit ihrem breitkrempigen Hut. Sie saß lächelnd wie ein groteskes Maskottchen auf einem Ehrenplatzund lauschte nickend
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