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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
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allem. Die Reflexe der Häuser schwammen inden Grachten zusammen mit den Fenstern, in denen sich der Himmel spiegelte. Bei dem Gedanken an all die Spiegelungen wurde mir schwindlig.
    An manchen Häusern waren kleine Außenspiegel befestigt. So konnten die Bewohner unbemerkt und ohne sich aus dem Fenster zu lehnen beobachten, wer an der Haustür klingelte. Auch mein Abbild erschien in diesen Spiegeln. Mir war, als könnte ich durch all die vielen Spiegel jeden Augenblick in eine Parallelwelt geraten. Der Gedanke erschreckte mich, dass ich dann auf der anderen Seite, drinnen, hinter einem Vorhang versteckt, mich selbst sähe, wie ich an der Haustür klingelte.

    Einmal kam ich an einer Gruppe amerikanischer Touristen vorüber, die auf der Kalverstraat eine altmodische Drehorgel umstanden, und als ich das freudig wiederholte Wort
cute
hörte, was im Holländischen
leuk
heißt, dachte ich, dass im häufigen
leuk
vielleicht der Schlüssel zum Missverständnis lag.
Leuk
war eine Art Antiseptikum, ein Desinfektionsmittel, das alle Flecken beseitigte, alles glättete, alles auf die Reihe brachte und alles zuließ. Ganz in der Nähe meiner Wohnung war der Gay-Pub
Quinn’s Head
, der in seinem Fenster zwei Dutzend Puppenjungen ausstellte, lauter Kens. Das Exponat war
leuk
. Wenn ich dort vorbeiging, fielen mir die Hunderte von »Barbies« ein – aus Moldawien, Bulgarien, Weißrussland, der Ukraine –, die die Menschenhändler in osteuropäischen Provinzen aufkauften. Ich dachte an das osteuropäische Frischfleisch, das eine lange Reise antrat und, sofern es nicht in obskuren serbischen und bosnischen Kleinstädten hängen blieb, um lokalen Polizisten und Mafiosi Sklavendienste zu leisten, schließlich hier landete. Ich dachte an diese neue Serie osteuropäischer »Barbies« und »Kens«, die es bis in dieses Disneyland geschafft hatten, um erwachsenen Jungs zum Vergnügen zudienen, die ihre Schwänze in dieses Frischfleisch stießen. Aber alles war
leuk
. Und
leuk
ist wie die Kinderwelt jenseits von Gut und Böse, es ist weder moralisch noch amoralisch, es ist
take it or leave it
.

    Eines frühen Morgens sah ich eine Szene, die sich tief in mein Gedächtnis einprägte. Die Straßen waren noch leer. Plötzlich wurde die porzellanene Morgenstille von Schreien zerschlagen. Eine Frau kam mir entgegen. Sie schwenkte die Arme, hob drohend die Fäuste. Ihrem Mund entströmten von Schluchzen unterbrochene Worte. Als sie mir nahe war, blitzte vor mir eine Maske auf, die wie in ihr Gesicht gewachsen war, eine Maske des Schmerzes. Ich sah keine Tränen, die Augen blickten stumpf, glanzlos, die Mundwinkel hingen herab. Als sie vorbeiging, bemerkte sie mich nicht, obwohl ich außer ihr das einzige lebende Wesen auf der Straße war. Die Frau setzte ihren Weg Fäuste schüttelnd fort. Es war, als stieße sie eine lange Reihe Beschimpfungen aus, als verläse sie ihr persönliches Beschwerdebuch. Obwohl ich nichts verstand, drangen mir ihre Schreie bis ins Mark.

    Als ich eines Tages auf einer meiner rastlosen Bahnfahrten in Den Haag ausstieg, um Madurodam zu besichtigen, begriff ich, dass ich mitten in das Herz der Metapher geraten war, nach der ich die ganze Zeit gesucht hatte. Madurodam war ein perfektes Modell der Niederlande, ein holländisches Disneyland. Alles war da, Städte, Häuser, Kanäle, Windmühlen, Brücken. Und alles war »wie echt«: das Wasser floss, die Bonsaibäumchen gediehen, das Gras war grün, auf den Kanälen fuhren Schiffe, und die Brücken hoben sich, um ihnen den Weg freizugeben. Durch die Luft flogen Hubschrauber. Da waren auch Menschen, winzig kleine Bus- und Straßenbahnfahrer, Passagiere,Weichensteller, Lokführer, Piloten, Schaffner, Spaziergänger, Ärzte, Käufer, Touristen, Kinder, Greise, Erwachsene, Verkäufer, Landwirte, Feuerwehrleute. Da war auch Schiphol mit Landepisten, Flugzeugen, Kontrolltürmen, Terminals und Fluggästen. Auch das Parlament in Den Haag war da und die Kathedrale in Utrecht und der berühmte Käsemarkt von Alkmaar und das königliche Museum in Amsterdam und die Erasmus-Brücke in Rotterdam und der Bahnhof in Groningen und der Leuchtturm auf Ameland … Und auf einmal konnte ich mir dort auch eine Replik meiner selbst vorstellen. Ich sah mich auf einer Bank im Vondelpark sitzen oder ein fingernagelgroßes Bild im Rijksmuseum bewundern. Amsterdam–Madurodam. Madurodam–Amsterdam. Ich erkannte, dass ich im größten Puppenhaus der Welt lebte, weigerte mich jedoch, aus dem Fenster

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