Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
wo Sie sich befinden?«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge …«
»In Macondo.«
»Wieso auf einmal in Macondo?«
»Sie wissen doch, wie dort alle plötzlich aufhörten zu schlafen und in völliges Vergessen fielen. Und wie sie auf alles Etiketten kleben mussten, um zu wissen, wie die Dinge heißen, und dann Hinweise, um zu wissen, wozu die Dinge dienen. Und wie Arcadio Buendía die Erinnerungsmaschine erfand …«
Es war, als stünde alles um uns still. Die scharfen Kanten verschwanden, alles war weich, Geräusche, Stimmen, Lichter, alles zog sich zurück und hielt den Atem an. Wir gingen durch den Zuckerwattenebel. Alles war unwirklich.
»Ich erinnere mich nicht«, sagte ich.
»Und wer hat sie am Ende gerettet?«
»Keine Ahnung.«
»Der Zigeuner Melquiades, der von den Toten auferstand und ihnen Zuckerwasser in kleinen Flaschen brachte.«
»Coca-Cola?«
Aus dem Nebel starrte mich ein Wesen mit dunklen, glänzenden, leicht schrägen Augen an, mit vollen Lippen und einem wie eine Sehne gespannten Körper. Es schien zu zittern …
Wie aus dem Dunkel einer vergessenen Vergangenheit blitzte ein Bild auf. Ich sah mich, wie ich Igors feuchten Mantelaufknöpfte, den Kopf an seine Brust legte, mich auf die Zehenspitzen hob, ihn in die Oberlippe biss, mit der Zungenspitze über den glatten Schmelz seiner Zähne fuhr …
»Gute Nacht«, brachte ich hervor und schlüpfte ins Haus.
Zweiter Teil
1.
Ich komm zum Flughafen, hatte sie gesagt. Nicht nötig, ich nehm ein Taxi, hatte ich geantwortet. Dennoch spürte ich einen leichten Stich der Enttäuschung, als ich in der Ankunftshalle ihr Gesicht nicht entdeckte. Ein fremdes Land ist dort, wo uns bei der Ankunft niemand erwartet, dachte ich. Meine so kindliche Verwundbarkeit überraschte mich. Ich hatte es nicht geschafft, den Schutzpanzer anzulegen, der Stich kam zu schnell und unerwartet.
Ich hatte mir »Emigrantengefühle« verboten. Die Beschwerdeliste kannte ich auswendig.
Dort fragt keiner, wie es uns geht, die reden nur über sich
(Mario). Wobei »wir« diejenigen waren, die gegangen, und »die« diejenigen, die geblieben waren. Sie lebten »dort« und wir »hier«.
Die wissen alles besser! Wenn ich was sagen will, schneiden sie mir gleich das Wort ab. Wieso müssen sie über alles eine eigene Meinung haben
(Darko)
? Die kennen Amsterdam besser als ich, obwohl sie nie hier waren
(Ante)
! Ständig jammern sie, wie schlecht es ihnen geht, und reden mir Gewissensbisse ein, weil ich weggegangen bin
(Ana).
Wenn ich dort bin, komm ich mir vor wie auf der eigenen Beerdigung
(Nevena).
Und ich komm mir vor wie ein Punchingball, alles tut weh
(Boban)
! Ich hab mich immer gefühlt wie Väterchen Frost. So viele Geschenke habe ich hingeschleppt. Aber das war ein gutes Gefühl, das mir jetzt fehlt
(Johanneke).
Keine Ahnung. Ich war nicht dort und will auch nicht hin
(Selim).
Ich habe Angst vor der Konfrontation
(Meliha).
Mutters Wohnungstür stand halb offen. Mich rührte ihre Besorgnis, sie hatte auf glühenden Kohlen gesessen, Angst gehabt, die Klingel nicht zu hören oder den Schlüssel nicht zu finden und, wenn doch, vor Aufregung das Schloss zu verfehlen.
Sie warf sich mir in die Arme wie ein Kind (
Gott, bist du abgemagert. Als kämst du aus Bangladesch und nicht aus einem Land, das die ganze Welt mit seinen Tomaten versorgt, die übrigens scheußlich schmecken
). Gleich musste ich mich an den Küchentisch setzen, und sie schwatzte übers Essen, fragte, ob ich dies oder jenes möchte …
Sie kam mir kleiner und dünner vor als bei der letzten Begegnung, im Gesicht waren neue Falten aufgetaucht, und ihr Haar war schütter geworden. Dieses Detail, das graue Haar, unter dem die Kopfhaut hervorschimmerte, rief bei mir schmerzliche Zärtlichkeit hervor. Mein Gott, wie alt sie geworden war …
Mutter hatte die natürliche Gabe, alle zu ihren »Laufburschen« zu machen: mich, ihre Männer und Freunde, ohne dass sich je einer von uns beklagte. Immer war ich der kleine, schweigsame Page an ihrem Hof, so jedenfalls kam ich mir vor. Sie überschüttete mich mit zärtlichen Namen – ich war ihr Äpfelchen, Möhrchen, Fröschlein, Fischlein –, hatte aber nie viel Zeit für mich. Sie behielt mich im Blick, das war alles. Sie machte mehr den Eindruck, sie kümmere sich um mich, als dass sie es wirklich tat. Oft gab sie mich in die Obhut anderer: von Studentinnen, nicht berufstätigen Nachbarinnen, »Tanten« im Kindergarten. In der Grundschule musste ich häufig geduldig
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