Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
schrägen Blick. Vorsichtig schlich ich an den Häusern entlang. Alles kam mir grau und baufällig vor, mal wie etwas
Eigenes
, mal wie etwas
Fremdes
, mal wie etwas
Gewesenes
.
Ich verheimlichte meiner Mutter, dass ich mich beim Versuch, meinen Personalausweis umzutauschen, verirrt hatte. Das zuständige Amt hatte ich nicht gefunden, obwohl ich mehr als einmal in dem Gebäude gewesen war, den Stadtteil gut kannte und nie Probleme mit dem Ortssinn hatte. Die Passanten, die ich fragte, schickten mich nach links und nach rechts, aber ich fand das Amt nicht und drehte mich zwischen nur zwei, drei Straßen hilflos im Kreis. Als die Panik sich meiner völlig bemächtigte, begann ich zu heulen. Das Flüchtlingstrauma, diese Angst des Kindes, das die Mutter aus den Augen verloren hat, brach dort aus, wo ich nicht damit gerechnet hatte: »zu Hause«. Entsetzt stellte ich fest, dass ich mich in einer Gegend verirrt hatte, die ich wie meine Westentasche kannte.
Das erzählte ich einem Herrn neben mir im Flugzeug. Er war Zagreber, vielleicht ein wenig älter als ich, von Beruf Architekt. Einundneunzig hatte er Zagreb verlassen. Jetzt flog er über Amsterdam nach Amerika, wo er bei einer Firma arbeitete.
»Ich dachte, ich sei verrückt geworden …«
»Kein Wunder, dass Sie sich verirrt haben, man hat die Straßen umbenannt«, sagte er.
»Aber die Straßen sind dieselben geblieben!«
»Wenn sie andere Namen haben, sind sie nicht mehr dieselben«, sagte er.
»Unglaublich, dass mir so etwas passiert …«
»Ein kleiner Black-out. Zu viele Dinge haben sich in kurzer Zeit verändert«, tröstete er mich.
»Wie konnte ich mich nur in meiner Stadt verirren!?«
»Es ist eben nicht mehr Ihre Stadt.«
»Sie wird immer meine Stadt bleiben«, sagte ich trotzig, obwohl ich wusste, wie unsinnig das war.
»Nächstes Mal machen Sie sich die Mühe, die neuen Namen zu lernen, und alles wird gut. Je schneller Sie die alten vergessen, umso besser.«
»Glauben Sie, dass das so einfach ist?«
»Nein. Ich sehe nur, dass Sie sich plagen. Auch ich habe mich lange geplagt, aber dann hörte es von selbst auf. Denn wir – ich, Sie, viele andere – sind die Dummen. Aber wir sind unbedeutend, eine zu vernachlässigende Gruppe. Oder haben Sie etwa jetzt zu Hause festgestellt, dass die Menschen sich über all das, was passiert ist, übermäßig aufregen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Einundneunzig spürte man eine Erleichterung in der Luft. Für viele war das Leben im ehemaligen Jugoslawien ein anstrengender Kampf gewesen. Ständig mussten sie sich für etwas einsetzen: für eine bessere Zukunft, für diese oder jene Reform; ständig die Nachbarn ausspionieren, ob deren Hühner vielleicht mehr Eier legten als die eigenen. Als Jugoslawien auseinander fiel, entspannte man sich. Die Menschen durften in der Nase bohren, sich am Hintern kratzen, die Füße auf denTisch legen, ihre eigene Musik hören, ausschließlich ihr Fernsehprogramm sehen. Die Kroaten verjagten die Serben, die Serben verjagten die Kroaten und erschlugen die Albaner, und die armen Bosnier bezogen die meisten Prügel, sowohl von den Serben als auch von den Kroaten. Jetzt haben alle ihre Kriminellen, die ihnen auf der Nase herumtanzen, und dennoch meinen sie, so sei es besser. Es sind schließlich die eigenen Kriminellen, und niemand zwingt ihnen mehr unerfüllbare Standards auf. Eigentlich müssten sich alle bei diesem Milošević bedanken. Er allein hatte den Mumm, Jugoslawien zu zerschlagen. Er hat das getan, was alle insgeheim wünschten.«
»Und das ganze Unglück? Wer kommt dafür auf?«
»Was geht Sie das an? Werden Sie dafür bezahlt, solche Fragen zu stellen? Wetten, dass in einem Jahr sich keiner mehr an Vukovar oder Sarajevo erinnert? Auch die Einwohner dieser Städte nicht. Es lohnt nicht, sich aufzuregen.«
»Ich rege mich aber auf.«
»Haben Sie mal Emigranten getroffen, die nach dem Zweiten Weltkrieg abgehauen waren oder die sich später, einundsiebzig, abgesetzt hatten?«
»Nein.«
»Ich schon. Ich hatte so einen Onkel in Amerika. Mir kamen diese politischen Emigranten vor, als wären sie aus dem Grab gekrochen, immerzu laberten sie irgendein langweiliges Zeug, das mit unserem Leben nichts zu tun hatte. Sie hatten eine andere Wahrnehmung der Zeit. Wenn man weggeht, wechselt man nicht nur den Ort, sondern auch die Zeit, die innere Uhr. Im Moment läuft die Zeit in Zagreb viel schneller als Ihre innere Uhr. Sie sind in Ihren Zeitwindungen stecken geblieben.
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