Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
weiß nicht. Sein Vater ist, das wisst ihr, ein bosnischer Serbe«, sagte Darko.
Die Inszenierung von Uroš’ Tod, so wie Darko sie schilderte, kam mir kindisch und gleichzeitig eiskalt vor. Die Kinderkoffer aus Pappe waren das Gepäck, das Uroš auf die Reise mitnahm. Die
Kipa
, die Zahnbürste, der Bleistift und der Schreibblock – alles siebenfach. Das war Uroš’ Testament in Hieroglyphen, denen hinterlassen, die gewillt waren, es zu entziffern.
»Und noch etwas«, sagte Darko. »In seinem Mund fand man eine Kugel.«
»Wieso eine Kugel?«, fragte Nevena.
»Was weiß ich …«
»Wirklich, wieso eine Kugel?«, wiederholte Igor gedankenverloren.
»Ich weiß nicht. Vielleicht hat es sich so zugetragen: Nachdem Uroš alles sauber gemacht, seine Kleider ausgezogen und den Revolverlauf an seine Schläfe gelegt hatte, fiel ihm ein, dass es wehtun würde. Er könnte vor Schmerzen schreien, und jemand würde ihn hören. Vielleicht sind ihm da Filme eingefallen, in denen man Verwundeten, bevor man sie ohne Betäubung operierte, einen harten Gegenstand zwischen die Zähne schob, damit sie nicht schreien. Uroš hatte aber schon alles weggeräumt. Deshalb nahm er eine Kugel aus der Trommel und steckte sie zwischen die Zähne. Die andere schoss er sich dann in den Kopf.«
Darko brachte mit Mühe die Worte heraus. Er war den Tränen nahe. Während er zu rekonstruieren versuchte, wie die Kugel in Uroš’ Mund gelangt war, dachte er wohl, wie dumm und sinnlos Uroš’ Tod sei, dann regte sich in ihm Protest, weil doch kein Tod klug und sinnvoll ist, worauf ihn großes Mitleid überkam. Das waren allerdings nur meine Vermutungen, mein eigener stummer Protest.
Igor zeigte uns eine knappe Notiz aus dem
NRC Handelsblad
, in der der Prozess gegen drei Kriegsverbrecher, darunter auch Uroš’ Vater, angekündigt wurde. Das waren alles »kleine Fische«, die als Erste vor das Haager Tribunal kamen. Die größeren sollten erst einige Jahre später dran sein.
»Sollen wir nach Den Haag fahren, um ihn zu sehen?«, fragte er und meinte damit Uroš’ Vater.
»Geht das?«
»Ich habe im Seminar zwei Passierscheine geholt.«
»Einfach so wie Kinokarten?«
»Dort sind sie der Meinung, ein Besuch im Haager Tribunal sei für die Studenten eine kostenlose Sprachübung«, sagte er ironisch.
»Wann?«
»Meinetwegen schon morgen, wenn Sie wollen.«
Wir verstummten. Im vergangenen Semester hatte ich, wie auch meine Studenten, den Krieg verdrängt. Die Nachricht von Uroš’ Tod katapultierte mich jetzt wieder an den Anfang, in den Albtraum. Ich machte mir Vorwürfe. Wieso hatte ich von nichts gewusst? Weil ich nicht gefragt hatte. Und ich hatte nicht gefragt, weil ich Angst hatte, überhaupt etwas zu fragen. Jetzt zermarterte ich mir den Kopf mit Überlegungen, was ich tun könnte. Aber es war bereits zu spät …
»Uroš’ Bruder hat mit Hilfe eines Freundes, der schon lange hier lebt, alles geregelt. Was könnten Sie oder irgendeiner von uns da noch tun? Wir können nicht einmal zu seinem Begräbnis gehen«, sagte Darko.
»Trinken wir einen auf sein Seelenheil. Das geht auf meine Rechnung«, sagte Nevena und ging zur Theke, um die Getränke zu holen.
Wir nippten schweigend am Genever. Ich dachte nicht an Uroš. In meinem Kopf lief eine Bildsequenz aus dem Fernsehen ab, die für mich den Anfang des Krieges markierte. Ein junger Mann in Uroš’ Alter, ein Slowene in der Uniform der jugoslawischen Volksarmee, den die slowenische Territorialverteidigung gefangen genommen hatte, steht da mit erhobenen Händen und ruft weinerlich wie ein Kind: »Schießt nicht, Kameraden, ich bin einer von euch!« Ein paar Sekunden später soll der Slowene von den »Seinen« doch getötet worden sein.
Nevena, Darko, Igor und ich tranken aus und gingen auseinander. Amsterdam glich an jenem Tag einer Kulisse in Fellinis
Amarcord
. Der Schnee fiel in ungeheuren XXL -Flocken.
2.
Manchmal buddelt einer
unterm Strauch
durchgerostete Argumente aus
und wirft sie auf den Müll.
Wisława Szymborska
Ratlos drehte ich mich in meiner engen Wohnung im Kreis und zitterte von leichtem Fieber. Ich konnte mich nicht konzentrieren, der Gedanke an Uroš’ Tod war hartnäckig wie Zahnschmerz. Dann blieb mein Blick an einer Mappe im Regal hängen. Es war eine von den dreien, die mir Papa neulich in Zagreb gegeben hatte. Zwei hatte ich bei meiner Mutter zurückgelassen, wohl wissend, dass ich weder Zeit noch Lust haben würde, sie zu lesen. Die dritte hatte ich
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