Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
gegenüber. Dort saßen Nevena und Igor.
Man sah an ihren Gesichtern, dass etwas geschehen war. Ja, sie hätten schon gehört, dass Uroš sich das Leben genommen habe. Nein, sie wüssten nicht, wie es dazu gekommen sei. Auch hätten sie erfahren, dass Uroš’ Bruder nach Amsterdam gekommen sei, um alles zu regeln. Uroš’ Vater sei vor einigen Tagen als Kriegsverbrecher vor das Haager Tribunal gestellt worden. Nein, davon hätten sie keine Ahnung gehabt, niemand habe das mit dem Vater gewusst … Uroš war sehr verschlossen, das hatte ich auch bemerkt, sie sahen ihn nur in den Vorlesungen wie ich auch.
»Er hat sich vor Scham umgebracht,
drugarica
«, sagte Igor.
Die Selbstmorde kamen mit dem Krieg …
Meine Mutter erzählte von einem knapp zwanzigjährigen Heimkehrer von der Front, der zu seiner ehemaligen Grundschule gegangen war. Den ganzen Tag soll er auf dem Schulhof verbracht, Bonbons an die Kinder verteilt, ihnen gezeigt haben, wie eine Handgranate aussieht. Am nächsten Tag lagen überall Teile von ihm herum. Einige hingen in den Ästen der umliegenden Bäume. Er hatte sich etwa um fünf Uhr morgens mit seiner Granate in die Luft gesprengt. Die Kinder mussten an diesem Morgen vor der Schule über die blutigen Reste steigen.
Ja, die Selbstmorde kamen mit dem Krieg. Sie geschahen still, leise, unbemerkt. Es gab zu viel Unglück und Tod, als dass man mit Selbstmördern noch Mitleid haben konnte. Selbstmord war ein Luxus, und Mitleid ist in Kriegszeiten Mangelware.
Man nahm sich auf verschiedene Weise das Leben. Die billigstewar der Alkohol. Etliche starben auch an einer Überdosis; der Krieg hatte die Grenzen geöffnet, und Drogen strömten ins Land. Vielen »brach« einfach das Herz. Manche, die an schweren Krankheiten litten, verweigerten die Annahme ärztlicher Hilfe; auch das war eine Art, seinem Leben ein Ende zu setzen. Am Anfang des Krieges brachte sich eine Studentin um, deren Vater, ein serbischer General, ein Kriegsverbrecher war. Sie tat es aus Scham. Eine ältere Frau, die an einer Bushaltestelle in Belgrad ins Straucheln kam und fiel, wurde von den Menschen niedergetreten, die in den gerade angekommenen Bus drängten. Keiner fand sich bereit, ihr zu helfen. Im Krankenhaus hat man sie mit Mühe wiederhergestellt, aber nach Hause zurückgekehrt, sprang sie aus dem dritten Stock. Aus Scham.
Es nahmen sich auch Menschen das Leben, die vor dem Krieg geflohen waren. Viele solche Geschichten hatten wir in Berlin gehört. Eine Bosnierin erhängte sich einen Tag, bevor sie aus der Psychiatrie entlassen werden sollte. Ein bosnischer Flüchtling erstickte in Berlin mit einem Kopfkissen seine Frau und sein zweijähriges Kind und erhängte sich danach. Hier, in Amsterdam, drehte eine Kroatin in einem Zentrum für Asylanten den Gashahn auf und verbrannte. Die Menschen töteten sich aus Verzweiflung, aus Angst, aus Einsamkeit, aus Scham. Es waren stille und namenlose Tode. Kriegsopfer, die man weder dem Krieg noch den Opfern zuordnete.
Einzelheiten erfuhren wir von Darko, der ins Café kam. Er war der Einzige, der einigen Kontakt zu Uroš hatte. Uroš habe sich mit dem Revolver eine Kugel in die Schläfe geschossen. Ein Revolver sei leicht zu beschaffen, es genüge, jemanden aus den Kreisen der jugoslawischen Mafia zu kennen. Amsterdam war voll von Jugo-Waffen. Die Polizei fand gelegentlich in Parksweggeworfene Handgranaten. Erst vor kurzem wurden zwei Jungs in einem Amsterdamer Park von einer Granate
Made in Yugoslavia
getötet.
Uroš habe vor der Tat gründlich die Wohnung geputzt und Kleider, Bücher, seine ganze Habe, in den Müll geworfen. Geblieben sei nur ein Müllsack aus schwarzem Plastik, darin auch die Kleider, die er ausgezogen hatte, bevor er sich erschoss. Auf dem Müllsack klebte ein Zettel mit der säuberlich geschriebenen Adresse und Telefonnummer seines Bruders. Er habe sich am Samstag oder am Sonntag umgebracht, als seine Zimmerwirtin nicht in Amsterdam war. Am Montagabend habe sie ihn gefunden und die Polizei benachrichtigt. Er habe mitten im Zimmer gelegen, ganz nackt. Sein Körper habe ihm einen Gefallen getan: abgesehen von geringen Blutspuren und Urin sei alles sauber geblieben. Neben ihm hätten sieben Pappköfferchen (Diminutiva!) gestanden, solche, die es bei »Blokker« zu kaufen gibt. In jedem derselbe Inhalt: eine ungebrauchte Zahnbürste, ein neuer Schreibblock, ein sorgfältig gespitzter Bleistift und eine jüdische
Kipa
.
»War Uroš Jude?«, fragte Nevena.
»Ich
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