Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Puschkins Eugen Onegin, Ljermontovs Petschorin, Turgenjews Gestalten Rudin, Lavreckij, Kirsanow und Bazarow, wie Gontscharows Oblomow, Tschechows Iwanow und Kavalerows Oleschin krabbelten diese Helden in den slawischen Literaturen gleich kleinen Krebsen umher. Soweit die männliche Linie. Den Frauen waren in diesen Werken drei typische Rollen zugedacht: das junge, schöne, heimatliebende Mädchen, das in der Regel von dem Helden sitzen gelassen wird, die
femme fatale
, die mit dem Helden ein Spiel treibt, ihn aber auch inspiriert, und die stille Leidende, die den Helden bis ans Lebensende treu begleitet.
Die Regelmäßigkeit, mit der sich die Züge der literarischen Helden wiederholten, frappierte mich. Bei der Durchsicht dieser Romane hatte ich das Gefühl, ich befasste mich mit Genen und nicht mit literarischen Texten. Als entdecke man etwas, was man schon immer gewusst, aber nicht für wichtig gehaltenhatte, zum Beispiel ein Muttermal, das sich an genau der gleichen Stelle befand wie bei unseren Eltern oder Kindern oder Enkelkindern. Oft kam mir das wie die Fortsetzung einer Seifenoper vor, die sich über hundert Jahre hinzieht. Nur durfte ich das nicht laut sagen.
Wir lasen Ksaver Žandor Gjalski und seine Romane
Janko Borislavić
und
Radmilović
, deren beide Helden im Wahnsinn und im Tod enden;
Zwei Welten
und
Tito Dorčić
von Vjenceslav Novak sowie Nehajevs Roman
Die Flucht
. Die Helden dieser drei Romane nehmen sich alle das Leben. Auch Krležas beispielhaften Roman
Die Rückkehr des Filip Latinovicz
nahmen wir durch. Alle diese Romane handeln vom Exil, in dem der Held sich deplatziert fühlt, und von der Heimkehr, die in der Regel mit dessen tragischem Tod endet.
»Ich meine, eine uns nahe stehende Geschichte über die Heimkehr kann doch nur eine Gastarbeiterstory aus den siebziger Jahren sein«, sagte Meliha. »Damals gingen unsere halbgebildeten Arbeiter und Bauern nach Deutschland, Schweden, Frankreich und Holland und rackerten sich dort für wenig Lohn ab. Das bitter verdiente Geld steckten sie in riesige Häuser, die jahrelang leer standen wie Denkmäler der Utopie von einer glücklichen Rentnerzukunft. Sie bauten sich Grüfte und Pyramiden, um eine Spur aus Steinen zu hinterlassen, um es nach dem Tod schön zu haben. Aber dann kam der Krieg und verwandelte alles in Schutt und Asche!«
»Schon gut, aber das ist nicht unsere Story«, wandte nicht allzu überzeugt Ana ein.
»Wieso nicht, du arme Seel! Stell dir vor, deine Eltern waren Gastarbeiter, und jetzt hockt ihr alle arm wie Kirchenmäuse im Ausland mit einer Enttäuschung mehr auf dem Buckel. Frag mal meine Freundin Alda. Ihre Eltern haben dreißig Jahre langin Deutschland geschuftet. Als sie in Rente gingen, überwiesen sie ihre ganzen Ersparnisse an ihre Bank in Sarajevo, damit wollten sie ein Haus kaufen und ihren Lebensabend genießen. Stattdessen hocken sie jetzt bettelarm in Köln! Bei uns fängt jede Generation bei null an und endet bei null. Meine Großeltern und auch meine Eltern fingen nach dem Zweiten Weltkrieg bei null an. Nach diesem Krieg landeten sie wieder bei null. Auch ich fange wieder bei null an …«
Wir verstummten. Melihas schreckliche Null hing wie eine Schlinge über unseren Köpfen.
Anthropologen, die sich mit Migrationen befassen, haben aus populären Spionageromanen den Begriff
Schläfer
übernommen. Das sind Auswanderer, die ein »normales« Leben führen, die Sprache des Gastlandes erlernen, sich ohne Mühe integrieren, nicht auffallen, aber dann eines Tages aufwachen. Die Idee von der Heimkehr wird bei ihnen plötzlich so stark, dass sie ihr wie Roboter folgen. Manche verkaufen alles, was sie sich inzwischen angeschafft haben, und kehren zurück. Wenn es ihnen dann langsam dämmert, dass sie einen Fehler gemacht haben – und das ist bei den meisten der Fall –, gehen sie wieder in das Land zurück, in dem sie zwanzig oder mehr Jahre »verschlafen« haben. Sie durchlaufen wie bei einer psychoanalytischen Sitzung denselben Weg noch einmal, um sich schließlich zweifach geschlagen, aber auch zweifach getröstet, doch mit ihrem Leben abzufinden. Viele von ihnen führen ein Parallelleben: Sie projizieren das Bild ihrer Heimat auf die gleichgültigen Wände des Landes, in dem sie sich »nur vorübergehend« aufhalten, und empfinden diese Projektion als ihr »richtiges« Leben.
Meine Studenten waren keine »Schläfer«. Sie hatten nochkeine Zeit gehabt, es zu werden. Sie waren weder hier noch dort, saßen im
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