Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Ujevićs Gedicht
Tagtägliches Wehklagen
auswendig zu lernen. Vom Anfang zum Ende und vom Ende zum Anfang. Diesen dummen Trick hatte ich einem verhassten Kroatischlehrer abgeguckt, der uns mit ähnlichen Gemeinheiten schikanierte. Damals schwor ich mir, ich würde von meinen künftigen Studenten nie etwas Derartiges verlangen.
Nevena lehnte es ab, das Gedicht auswendig zu lernen. Ich forderte sie auf, es laut vorzulesen. Sie las wirklich schlecht. Dann bat ich sie, die Verse vom Ende her zu lesen. Sie kam durcheinander. Es war eine peinliche und erniedrigende Szene. Schließlich stand Igor demonstrativ auf und trug mit Leichtigkeit das Gedicht so vor, wie ich es haben wollte.
»Danke, Igor. Und Sie, Nevena, melden sich wieder, wenn Sie das Lesen beherrschen.«
Ohne ein Wort zu sagen, packte Nevena ihre Sachen zusammen, stieß ein
Bitch!
aus und verließ den Raum, die Tür hinter sich zuknallend. Auf dem Korridor brach sie dann wahrscheinlich in Tränen aus. Sie tat mir Leid, aber es war zu spät. Ich konnte nicht mehr aus der Rolle heraus, in die ich geschlüpft war.
Ich spürte, wie die Unzufriedenheit der Klasse wuchs. Jedes Mal, wenn ich den Unterrichtsraum betrat, spürte ich es beinahe körperlich, wie einen Temperaturwechsel. Diese Unzufriedenheit füllte manchmal den ganzen Raum aus. Es kam mir vor, als müssten die Fensterscheiben von diesem stillen Unmut zerspringen. Sie schwiegen jedoch. Ich fragte mich, wann sie endlich das Schweigen brechen und rebellieren würden, wann jemand in offene Konfrontation zu mir treten und mich fragen würde, warum ich mich so verhielt. Aber sie schwiegen. Nur Igor schien unberührt zu sein. Er schaute mich mit offenem Blick an, als wöge er meine Seele. Manchmal setzte er die Kopfhörer seines Walkmans auf, die um seinen Hals hingen.
»Igor, nehmen Sie bitte ihren Walkman ab. Das hier ist eine Universität und kein Rockkonzert.«
»Zu Rockkonzerten nehme ich keinen Walkman mit.«
»Aber so können Sie nicht hören, was ich erzähle.«
»Keine Sorge, so höre ich viel besser, was Sie erzählen«, sagte er.
»Das wird sich noch zeigen. Bei der Prüfung …«
Das Ganze war ein einziger Krampf. Ich sprach Sätze, die nicht die meinen waren, und hasste mich selbst dafür. Den Gedanken, dass sie mich verraten hatten, dass einer von ihnen Cees alles gepetzt hatte, was sich während des ersten Semesters in unserem Unterricht abspielte, wurde ich jedoch nicht los.
Die Routine des neuen Lernens linderte mit der Zeit meine Verbitterung, ja ich fand sogar Spaß an dem »echten« Unterricht. Meliha schlüpfte in die Rolle der Studentin, Igor kam regelmäßig zu den Vorlesungen, Ana verfolgte sie aufmerksam, und Johanneke legte eine solche Begeisterung an den Tag, dass mich das für einen Augenblick vermuten ließ, sie habe mich bei Cees angeschwärzt. Die Klasse hatte sich auf diese vier reduziert. Erst war Nevena ferngeblieben, dann nacheinander Mario, Selim, Boban, Darko …
Die kurze literaturgeschichtliche Übersicht brachten wir mühelos über die Bühne. Der Galopp durch die verschiedenen Epochen und Richtungen, die literarischen Werke und ihre Verfasser hatte eine betäubende Wirkung. Das Thema der Heimkehr behielt ich mir für den Schluss vor. Niemand von ihnen wusste, ob er bleiben oder zurückkehren würde. Alle waren überzeugt, »nur vorübergehend« hier zu sein. Ihre ganze Energie war auf die Beschaffung von »Papieren« ausgerichtet. Wenn sie eines Tages erst die Papiere hätten, dann könnten sieleicht eine Entscheidung treffen, dachten sie. Die »Heimat« glimmte immer noch tief in ihnen wie ein vages »Exit«-Signal.
Wieder schnürte ich wie im ersten Semester das Fluchtgepäck meiner Studenten zusammen, nur war sein Inhalt diesmal keine »Schmuggelware«. Ich machte sie mit ihrer literarischen Familie, mit ihren literarischen Vorfahren bekannt. Die Beispiele aus der Literatur, die ich ausgewählt hatte, waren Biographien fiktiver Helden, in der ersten oder in der dritten Person erzählt. Oft begann die Geschichte in der dritten und endete in der ersten Person in Form eines Tagebuchs oder von Briefen, die der Held einem Freund schrieb. Diese kroatischen Helden waren entfernte Nachfahren Werthers und Childe Harolds und nahe Verwandte russischer Helden, die die literarische Kritik später als »überflüssige Menschen« bezeichnete. Nervös, übersensibel, gebildet, entfremdet, nicht angepasst oder aus ihrem Milieu gerissen. Wie Gribojedows Tschatskij,
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