Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
einem Punkt ausgehen, mit dem sich alle identifizieren konnten. Begreifen Sie denn nicht, dass ihnen alles weggenommen wurde! Wie kann ich Menschen, die dem Schlachthof entkommen sind, Vorträge über Držić halten?!«, sagte ich.
»Als wenn nicht auch dir alles weggenommen worden wäre! Auch dir hat man alles weggenommen«, quakte Ines mit affektierter Stimme und fügte hinzu: »Ein Segen, dass es dieses Jugoslawien nicht mehr gibt!«
»Sie sind dafür nicht ausgebildet, noch werden Sie dafür bezahlt. Dafür gibt es in diesem Land Fachleute, die man Psychotherapeutennennt. Ihre Aufgabe hingegen ist es, die Arbeit zu verrichten, wegen der man Sie hierher geholt hat. Und für die Sie bezahlt werden«, sagte Cees ruhig.
»Hör auf, Cees. Er meint es ehrlich mit dir«, sagte Ines.
»Sie haben unangemessen gute Noten gegeben. Alle in der Abteilung haben es gemerkt. Sie wollen doch nicht behaupten, dass alle so hervorragend waren?«, sagte Cees.
»Doch …«, stammelte ich.
»Gott, ich kenn dich doch, du hattest schon immer ein weiches Herz. Tanjica hat ein großes Herz«, sagte jetzt Ines zu Cees. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du eine Brosche abnahmst, die mir gefiel, und sie mir schenktest.«
Ich konnte mich an nichts Derartiges erinnern und fragte mich, ob sie sich diesen Vorfall ausgedacht oder ob ich ihn vergessen hatte.
»Es hat sich doch gezeigt, dass man sie nicht mit guten Noten bestechen kann. Ihre Studenten bestehen darauf, dass Sie sich an das Programm halten. Vielleicht haben Sie sie unterschätzt. Sie wollen ernsthaft studieren, und das freut mich sehr«, sagte Cees.
»Hör bitte auf, Cees. Er will nur dein Bestes«, turtelte Ines, als spreche sie zu einem Kind.
»Ich habe sie nicht bestochen! Könnt ihr denn nicht verstehen, dass meine Studenten Rekonvaleszenten sind! Wir alle sind Rekonvaleszenten! Ich habe mit ihnen etwas durchgenommen, was für sie weitaus wichtiger ist als das Programm der Fakultät!«, sagte ich, wohl wissend, dass ich ins Leere sprach.
Cees zuckte mit den Schultern.
»Wäre es für sie so wichtig gewesen, hätten sie sich nicht darüber beschwert, dass bei Ihren Vorlesungen das Fachliche zu kurz kommt.«
Ich wusste, für Cees waren meine Antworten nur eine schwache Ausrede für die Vernachlässigung meiner Pflichten. Mein Hals schnürte sich zu, und ich brach in ein krampfhaftes Weinen aus. Ich fühlte mich verraten, von meinen Studenten und auch von mir selbst, weil ich mir erlaubte, vor Cees und Ines zu heulen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass einer meiner Studenten Cees hintertragen hatte, was wir im Unterricht taten. Oder waren es mehrere? Cees hatte den Plural gebraucht, als hätte sich geradezu die komplette Klasse beschwert. Ein Gefühl der Scham, der Verlassenheit, der Verbitterung, der Wut überwältigte mich, alles in mir geriet in Aufruhr. Ich wusste nicht mehr, weswegen ich weinte, noch schaffte ich es, die Tränen zurückzuhalten. Statt möglichst schnell davonlaufen zu wollen, verspürte ich paradoxerweise den geradezu panischen Wunsch, bei Cees und Ines zu bleiben, mich auf ihrem Wohnzimmersofa zusammenzukauern und dort bis zum nächsten Morgen zu verharren. Der Gedanke an meine Kellerwohnung erfüllte mich mit zusätzlicher Verzweiflung.
Im aufrichtigen Wunsch, mir zu helfen, stürmte Ines hektisch zum Telefon, um ein Taxi zu bestellen, als gelte es, die erste Hilfe zu rufen (
Ich kann es nicht zulassen, dass du in einem solchen Zustand mit der Straßenbahn fährst!
). Als das Taxi kam, gab Cees mir die Hand.
»Ich hoffe, Sie haben mich verstanden«, sagte er ungeschickt. »Nächste Woche sehen wir uns in der Uni«, fügte er hinzu.
Ines hielt mir ihre Wange zum Kuss hin.
»Es wird schon alles gut. Komm, Tanjica, beruhige dich. Du weißt, dass wir dich lieben und dir nur Gutes wünschen«, sagte sie fürsorglich.
An der Tür drückte sie mir ein Päckchen in die Hand.
»Ein Stück Mohnstrudel, damit du morgen etwas zum Frühstück hast.«
Sie wartete, bis ich im Taxi saß, schickte mir durch die Luft einen Kuss und verschwand.
Am nächsten Morgen bemerkte ich eine Schürfwunde an meiner linken Handkante. Zuerst erschrak ich, weil ich nicht wusste, woher sie kam. Dann erinnerte ich mich dumpf daran, dass ich am Abend, als ich nach Hause gekommen war, noch lange im Sessel neben dem Heizkörper gesessen und mit der Hand über seine Rippen gestrichen hatte. Ich fragte mich jetzt, wie viel Zeit ich benötigt hatte, mir eine
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