Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
solche Verletzung beizubringen.
6.
Vor der Tür zögerte ich. Noch vor zwei Wochen konnte ich es nicht erwarten, den Unterrichtsraum zu betreten, jetzt fehlte mir die Kraft, die Schwelle zu überschreiten. Ich holte tief Luft, drückte die Mappe wie einen Schutzschild fest an die Brust und trat ein.
»Hallo,
drugarica
, wie war es in Zagreb?«
»Haben Sie uns ›Bajaderen‹ mitgebracht?«
»Schön, dass Sie wieder da sind!«
Die herzlichen Zurufe verunsicherten mich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Nachdem sie sich beruhigt hatten, verteilte ich schweigend ein Verzeichnis, das ich übers Wochenende zusammengestellt hatte; es war der Vorlesungsplan bis zum Ende des Semesters mit einer kurzen Beschreibung jeder einzelnen Unterrichtsstunde. Außerdem teilte ich Listen mit Büchern aus, die sie lesen sollten, etwa zweihundert Seiten pro Woche. Ich verkündete, ich würde mich streng an den Plan halten, was sie verpflichte, vor jeder Unterrichtsstunde die Texte zu lesen, die besprochen werden sollten. Es werde eine mündliche Abschlussprüfung geben, teilte ich ihnen mit. Jeder müsse im Laufe des Semesters zwei Hausarbeiten schreiben. Das Fehlen im Unterricht würde ich nicht mehr hinnehmen, jedes Fernbleiben werde sich also auf die Abschlussnote auswirken.
»Was ist denn das? Ein neues Regime?«, rief Meliha in scherzhaftem Ton.
Ich überhörte es.
»Wie sollen wir alle diese Bücher lesen, wenn es sie in der Bibliothek bestenfalls nur je einmal gibt?«, protestierte Mario, als er die Liste mit den Buchtiteln sah.
»Das müsst ihr untereinander regeln, oder ihr macht euch Kopien. So wie ich«, sagte ich. Das stimmte: Fast das ganze Wochenende über hatte ich in der Slawistischen Bibliothek der Universität die ersten der Bücher fotokopiert, die ich brauchen würde.
»Gibt es überhaupt alle diese Bücher?«, fragte Selim.
»Alle Bücher auf der Liste gibt es in der Bibliothek, sonst hätte ich sie nicht ausgewählt«, sagte ich.
Den Vorlesungsplan ließ ich auch Cees zukommen.
»Zweihundert Seiten pro Woche, ist das nicht ein bisschen viel?«
»Nein. Amerikanische Studenten lesen bis zu vierhundert Seiten in der Woche. Außerdem wollten Sie das doch so haben, oder?«, erwiderte ich. Die Information über amerikanische Studenten, die ich irgendwo aufgeschnappt hatte, machte offensichtlich Eindruck auf Cees, und er zuckte nur mit den Achseln.
Das Vorlesungsprogramm umfasste eine kurze komparative Übersicht über die slowenische, kroatische, bosnische, serbische und mazedonische Literaturgeschichte. Es war ein regelrechter Marathon durch Daten, Jahreszahlen, Namen. Die thematische Analyse einiger kroatischer Romane behielt ich mir für das Ende des Semesters vor.
Die Mienen der Studenten drückten Unglauben aus. Siedachten wohl, es handele sich nur um eine vorübergehende Laune von mir, die sie mir verziehen in der Hoffnung, beim nächsten Mal werde wieder alles sein wie immer. Auf der Suche nach meinem Denunzianten glitt mein Blick über ihre Gesichter wie über Texte auf dem Computerbildschirm. Mal meinte ich, es könne Meliha sein, mal Nevena, dann Igor, dann Boban … Vielleicht war es nicht nur einer von ihnen, vielleicht waren es zwei, vielleicht informierten Meliha und Igor regelmäßig Cees darüber, was in unserem Unterricht passierte? Vielleicht war Selim derjenige, der Cees eifrig hintertrug, dass wir uns mit Phantomen befassten und im Unterricht ein Land auferstehen ließen, welches seine Bürger im Namen der historischen Notwendigkeit zu Fall gebracht hatten? Vielleicht Johanneke? Oder Ana?
Nach dem Unterricht ging ich gleich nach Hause. Ich hielt mich nicht mehr in meinem Büro auf, tat alles, um unerreichbar zu sein. Anfangs reagierten sie mit Ratlosigkeit, dann mit Enttäuschung. Oft warteten sie nach dem Unterricht, dass ich sie aufforderte, mit ins Café zu kommen. Meliha startete einen Versuch, Nevena ebenfalls.
»
Drugarica
, lassen Sie uns zum
kopje koffie
gehen. Die Klasse spendiert!«
»Danke. Ich habe leider keine Zeit«, antwortete ich.
Auf dem Weg zur Uni sah ich sie immer im Café gegenüber sitzen, ins Gespräch vertieft wie ein geheimer Kriegsrat. Ich wusste, dass sie über mich redeten.
Bitch
, die
drugarica
ist eine richtige
bitch
geworden. In meiner Phantasie sah ich unter ihnen meinen Denunzianten verschlagen schweigen. Wer würde als Erster meinen Vorlesungen fernbleiben? Igor? Ante? Nevena?
Nur einmal erlaubte ich mir, grob zu sein. Ich gab ihnenauf,
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