Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Katheterschlauch hinter sich herziehend und die Wände der Zagreber Wohnung mit seinen Worten voll seibernd. Die Worte zerschellen an den Wänden wie Kamikazefliegen und hinterlassen kleine Blutflecken. Ich stelle mir vor, wie ich selbst zusammengekauert auf dem Bett in Mutters »Gästezimmer« das Tappen von Mutters Pantoffeln höre, das Quietschen der Tür und dann das Plätschern des Urins in die Toilettenschüssel. Das Bad liegt neben dem Gästezimmer. Das lang anhaltende, selbstgefällige Geräusch überdeckt jedes Bild. Im Klo nebenan uriniert meine Mama. Dann hört das Geräusch auf, Mutter geht ins Bett zurück und setzt ihren Traum fort, in dem sie ihre Vergangenheit wie Ostereier färbt, lang und selbstgefällig …
Erst dann bin ich imstande, auch zu sehen, wie ich auf der Bettkante in meiner Amsterdamer Souterrainwohnung wie in einem Wartesaal sitze und gelegentlichen Schritten lausche. Ich schlüpfe in meine Hose, ziehe eine Windjacke über das Schlafanzugoberteil und stürze aus meinem Keller auf die Straße hinaus. Ich brauche Luft, aber sie ist warm und klebrig wie Zuckerwatte. Ein subtropischer Wind treibt auf der Straße Müll vor sich her. Die an den Ästen naher Bäume hängen gebliebenen Plastiktüten rascheln und glänzen blass in der Dunkelheit wie Botschaften aus einer anderen Welt.
Auf der Straße kommt mir eiligen Schritts eine kleinwüchsige Landsmännin entgegen, eine große grauhaarige Frau auf Krücken hinter sich herziehend.
Komm, Mama
, kommandiert sie, und ihre schrille Stimme bohrt sich mir in die Ohrmuschel wie eine Nadel. Die Landsmännin ist allen
Unsrigen
wohl bekannt, diese kleine Frau sei eine wahre Meisterin, behaupten sie. Mal schleppe sie eine Schar falscher Kinder mit sich, mal laufe sie mit einem falschen Bauch umher, eine Schwangerschaft vortäuschend, mal zerre sie ihre falsche Mutter auf Krücken hinter sich her. Ein düster dreinschauender Mann, die Hände in den Taschen seiner kurzen Windjacke, folgt ihr immer wie ein Schatten. Diese Frau, erzählt man, klaue alles, was die
Unsrigen
bei ihr bestellen: Kleider, Schmuck, Videorekorder.
Komm, Mama, komm
, brummt die Diebin.
»Hast du Feuer?« Eine junge, betrunkene Engländerin packt mich am Ärmel.
»Nein.«
»Fuck you!«, knurrt die Engländerin und torkelt weiter.
Ich bleibe vor dem Schaufenster eines Tattoo-Ladens stehen. Der Laden ist zu, aber im Schaufenster läuft noch ein Fernseher. Auf dem Bildschirm wiederholt sich endlos ein Film über Tätowierungen.
Ich fing mit den Tattoos an, weil ich den Schmerz erfahren wollte. Jedes einzelne Muster erinnert mich an den Schmerz
, sagt ein junger Japaner und wendet der Kamera seinen reich tätowierten Rücken zu.
No pain, no gain!
, pflichtet ihm heiter ein zweiter tätowierter Japaner bei.
In der Gracht an der Ecke glänzt das schwarze, suppige Wasser. Plötzlich taucht aus der Dunkelheit ein weißer Schwan auf und steht unbeweglich da wie ein Gespenst. Im selben Augenblick geht im Schaufenster das Licht aus, und der Bildschirm versinkt in der Dunkelheit. Ich bleibe noch eine Weile davor stehen. Die im Geäst hängenden Plastikbeutel rascheln wie Drachen aus Papier. Der subtropische Wind leckt an meinen Wangen. Der Schweiß läuft mir den Rücken hinunter.
Eene meene Maus, rührst du dich, dann bist du raus …
Mit Mäuseschritten kehre ich in meinen Keller – gleich hier um die Ecke – zurück.
8.
Die ganze Fibel haben wir durchgenommen. Wir haben alle Buchstaben in Block- und in Schreibschrift gelernt. Jetzt können wir unser Lesebuch und andere schöne Kinderbücher lesen. Alles können wir lesen. Auch schreiben können wir. Wir können aufschreiben, was wir gesehen haben. Jetzt können wir alles selbst.
Wer mehr weiß, ist mehr wert.
Fibel für die erste Grundschulklasse
Dann kamen die Prüfungen. Auf dem Korridor vor meinem Zimmer saßen nur vier: Johanneke, Meliha, Ana und Igor. Als Erste war Johanneke dran. Ich stellte ihr einige Fragen, sie beantwortete sie richtig und bekam ein »sehr gut«. Johanneke hatte sich mehr als alle anderen in der Gruppe bemüht und sich immer diskret zurückgehalten. Mir fiel ein, dass ich nie ernsthaft mit ihr gesprochen hatte. Wir hatten sie als eine
Unsrige
aufgenommen, und dies schien uns zu genügen.
»Ich hoffe, Sie bleiben auch im nächsten Jahr«, sagte Johanneke.
»Vielleicht«, sagte ich, bemüht, heiter zu klingen.
Ich begleitete sie zur Tür und reichte ihr zum Abschied die Hand. Sie wurde
Weitere Kostenlose Bücher